Situation
Sicher hängen die Trauben in der Hafenstadt nicht mehr so hoch wie nach der Erstauflage der UEFA Champions League im Jahr 1993, als im Münchner Olympiastadion so klangvolle Namen wie Fabien Barthez, Marcel Desailly, Didier Dechamps oder Rudi Völler den AC Mailand mit 1:0 bezwangen und bis heute die einzigen französischen Gewinner dieses Wettbewerbs geblieben sind. Trotz danach immer wiederkehrender Nebenkriegsschauplätze arbeitete sich das Gründungsmitglied der Ligue 1 zuletzt aber in die nationale Spitzengruppe zurück.
Während in Frankreich mit Ausnahme der neunten Meisterschaft 2010 erst der einstige Abonnementmeister Olympique Lyon und in jüngerer Vergangenheit Paris Saint-Germain die Vormachtstellung innehatten, hätten die Blau-Weißen 2018 beinahe an vergangene kontinentale Heldentaten angeknüpft. Doch wie im Heimatland gab es auch in der UEFA Europa League mit Atlético Madrid (0:3) einen stärkeren Kontrahenten zu viel.
Auch in dieser Saison kann Coach Rudi Garcia auf die bewährte Achse um Torwart Steve Mandanda, Innenverteidiger Adil Rami, Triple-Gewinner Luiz Gustavo und Regisseur Dimitri Payet bauen. Dennoch müssen die Franzosen etwaige Titelambitionen derzeit zurückschrauben.
Formkurve
So hatte es zu Saisonbeginn den Anschein, dass Olympique Marseille als einziger französischer Klub der Übermacht aus Paris Paroli würde bieten können. Doch aktuell geht es für das Gründungsmitglied des französischen Oberhauses im November mittlerweile darum, nicht den Kontakt zu den Europapokalplätzen abreißen zu lassen. Während der Doublesieger unter Thomas Tuchel in der Ligue 1 von Sieg zu Sieg eilt, konnte OM nach dem verlorenen Auftakt in der UEFA Europa League gegen die Eintracht wettbewerbsübergreifend weniger als die Hälfte seiner Partien gewinnen. Olympique Marseille hat am vergangenen Sonntag mit 3:1 in Amiens gewonnen und somit den zweiten Ligasieg in Folge gefeiert. Zuvor gab es für die Südfranzosen vier Pflichtspielniederlagen in Serie.
Als größeres Manko tat sich dabei die Unausgewogenheit von Offensiv- und Defensivverhalten hervor. Zwar gilt Marseille hinter Paris als die treffsicherste Truppe der Liga, allerdings findet sich Olympique hinsichtlich der Gegentorquote im unteren Mittelfeld wieder. Selbst auf das als Festung geltende Stade Vélodrome war zuletzt immer seltener Verlass. Dort setzte es in der Gruppenphase Ende Oktober eine 1:3-Niederlage gegen Lazio Rom, auch das Rückspiel in der ewigen Stadt ging mit 1:2 in die Binsen und war gleichbedeutend mit dem Ausscheiden.
Trainer: Rudi Garcia
Rudi Garcia steht auf Offensivfußball. Aber vor einer gut gestaffelten Abwehr. Mit diesem einfach klingenden Erfolgsrezept hat sich der in der Nähe von Paris aufgewachsene Trainer einen guten Ruf erworben. Einen sehr guten sogar. Wo er ist, da lässt der Erfolg nicht lange auf sich warten. Das war zuerst beim OSC Lille so, wo er 2008 eine eher durchschnittliche Truppe übernommen und bis 2011 zum Doublesieger geformt hat. Es waren die ersten Titel des Vereins nach 56 Jahren.
Solche Erfolge blieben andernorts nicht unbemerkt und so ging der Ex-Profi im Sommer 2013 nach Italien, zu AS Rom. Dem Mann mit einer eher durchschnittlichen Spielerkarriere gelang am Tiber ein Raketenstart, nach zehn Spieltagen hatten die Römer 30 Punkte auf ihrem Konto. Zehn Siege zu Saisonbeginn sind noch heute für die Serie A einmalig. In seinen ersten beiden Spielzeiten wurden die Römer jeweils Vizemeister, nur Abonnement-Champion Juventus Turin war stärker. In der Saison 15/16 lief es nicht so gut, im Januar wurde Garcia, auf Rang fünf liegend, entlassen.
Nach gut einem halben Jahr Pause kehrte Garcia nach Frankreich zurück, übernahm am 20. Oktober 2016 Olympique Marseille. Die Südfranzosen lagen auf Rang 16, mit Garcia kletterten sie bis zum Saisonende immerhin noch drei Plätze nach oben. Ein Jahr später war es Platz fünf, und im vergangenen Sommer stieß der 54-Jährige sogar auf Rang vier vor und rockte parallel mit Olympique die Europa League. Erst im Finale von Lyon stieß man gegen Atletico Madrid (0:3) an Grenzen.
Taktiktafel
Garcia setzt auf das seit seinem Amtsantritt im Oktober 2016 häufig praktizierte 4-2-3-1-System. Diese Anordnung sollte zunächst eine gewisse kalkulierbare Stabilität garantieren, zumal sich Payet bei gegnerischem Ballbesitz neben die Sturmspitze schiebt und dadurch eine Art 4-4-2/4-4-1-1 entsteht. Zuletzt experimentierte Garcia aber auch hin- und wieder mit einem zu Rom-Zeiten erfolgreich umgesetzten 4-3-3-Muster.
Das robuste Defensivzentrum hat vor allem absichernde Aufgaben, was lange Ballbesitzphasen in der eigenen Hälfte ermöglicht, allerdings oft nur bis zum Mittelkreis zielführend ist. In der letzten Ebene helfen wiederum oft Schnelligkeit oder Geniestreiche der Einzelspieler wie Payet oder Florian Thauvin.
Spieler im Fokus: Dimitri Payet
Nachdem Dimitri Payet verletzungsbedingt die WM hatte absagen müssen, kommt der Fixpunkt der OM-Offensive derzeit nicht richtig in Tritt, wartet seit fünf Spielen auf eine Torbeteiligung und vergab unlängst einen Elfmeter. Dabei sind die Qualitäten des Stars unbestritten. Bewiesen zunächst bei der AS St. Etienne, ehe es über den OSC Lille zu OM ging, wo der heute 31-Jährige zum Star reifte. Doch 2015 musste der 1,75-Meter-Dribbler aus finanziellen Gründen verkauft werden. West Ham United schlug zu und Payet war kurzfristig zufrieden. Als in Marseille mit Frank McCourt mittlerweile ein finanzstarker Investor eingestiegen war, erkundigten sich die Verantwortlichen aus der Hafenstadt auf der Insel nach der Möglichkeit einer Rückkehr und machten diese nach einigem Hin und Her im Januar 2017 perfekt.