27.05.2020
Bundesliga

Ausgerechnet

Die Rekorde purzeln und die Adler straucheln immer seltener, bereiten aber nicht nur dem Gegner, sondern auch sich selbst Kopfzerbrechen.

Flüsterpost: Die Torschützen Timothy Chandler und André Silva treiben ihre Gegner zur Verzweiflung, aber oftmals auch sich selbst.

„Den Gegner zum Nachdenken bringen“ wollte Adi Hütter im Vorfeld des Bundesligaduells mit dem SC Freiburg. Und der Cheftrainer hatte nicht zu viel versprochen, denn nicht nur den Gästen aus Baden sollten regelmäßig Fragezeichen in den Augen stehen, auch Außenstehenden dürfte angesichts des flexiblen Frankfurter Verbunds sowie des fast irrwitzigen Chancenwuchers die Birne geglüht haben. Die Eintracht war am Dienstagabend mehr als nur ein taktisches Rätsel.

So Hütter vor und nach dem 3:3 nachvollziehbar von zwei nominellen Spitzen und Daichi Kamada auf der Zehn gesprochen hatte, mochte sich Alexander Schur auf EintrachtFM nach einigem Hin und Her kurz vor der Halbzeitpause auf drei Stürmer festlegen. Unrecht hatte gewissermaßen keiner von beiden. Denn auch, wenn die Ausrichtung mit Dreierkette und Doppelspitze bisweilen losgelöst von personeller und sportlicher Situation teilweise dem Erfolgssystem der vergangenen Saison ähnelte, war die Viererkette mit Martin Hinteregger links und Almamy Toure rechts nicht weniger selten mehr als eine Momentaufnahme. Wer wollte, konnte in den asymmetrischen Pendelbewegungen den bewussten Verzicht eines im Kader ohnehin nicht vorhandenen gelernten Rechtsaußen sehen, weil Bas Dost und André Silva – erstmals seit dem 2:1-Sieg bei Union Berlin Ende Oktober gemeinsam von Beginn an auf dem Rasen – zuverlässig für Strafraumpräsenz sorgten und Kamada, wenn er nicht gerade mit Lucas Torró und Sebastian Rode das Zentrum verdichtete, vorzugsweise den linken Flügel überlud. Wenn überhaupt, schob sich Toure bei Bedarf weiter nach vorne, um das linke Mittelfeld der Breisgauer zuzustellen. Die offensiven Ausflüge überließ der Franzose wiederum Pendant Hinteregger. Und Filip Kostic musste man schließlich auch noch irgendwo zwischen Außenstürmer und -verteidiger verorten. Ein Fluch für alle Mathelehrer.

Frust und Freude

Fußballlehrer Hütter wiederum bewies mit der in dieser Konstellation noch nie gestarteten Formation Mut wie Händchen, nicht nur, weil er mit den gemeinsam aufgebotenen Dost und Silva das Verletzungsrisiko der einzigen verfügbaren Stürmer in Kauf nahm. „Die beiden und Daichi haben es gut gemacht, auch wenn ich mir von ihnen ein, zwei Tore mehr gewünscht hätte“, gingen beim Österreicher im Nachgang Freude und Frust Hand in Hand. Hütter, der schon vor dem Neustart vermutet hatte, dass „mehr Tore als gewohnt fallen“ könnten, konnte der Tatsache, Stand Mittwoch zum zweiten Mal nach der Coronapause am Spiel mit den meisten Treffern am Spieltag beteiligt gewesen sein, nur bedingt etwas abgewinnen. Oder um den Rechenschieber griffbereit zu halten: ein Tor gegen Gladbach – nicht gepunktet, zwei Treffer in München – nicht gepunktet, drei Kisten gegen Freiburg – nicht gewonnen. „Wenn man jedes Spiel drei, vier, fünf Gegentore bekommt, wird's leider schwer, Spiele zu gewinnen“, prangerte deshalb Stefan Ilsanker das Defensivverhalten gleichermaßen an wie die Verwertung der eigenen Möglichkeiten durch die Adlerträger, die teilweise wirbelten, als hätten sie schon immer und nicht, wie es der Wahrheit entspricht, zum allersten Mal in dieser Besetzung zusammengewirkt. Schur gewann am EintrachtFM-Mikro 150 Meter von der Commerzbank-Arena entfernt den Eindruck, dass „die Spieler nur auf diese Formation gewartet“ hätten.

Einmal vor Augen geführt: 35 Schüsse sind neuer Vereinsrekord seit Beginn der exakten Datenerfassung. Allein sieben derer verzeichnete Kamada, dem mit seinem insgesamt 39. Versuch seine erste Bundesligabude gelang. 16 Versuche auf das gegnerische Gehäuse sind sogar neuer Bundesligabestwert. Und hier kommen nicht allein die Angreifer, sondern auch Alexander Schwolow ins Spiel, dem Hütter „eine internationale Topleistung“ attestierte. Kein Wunder, angesichts 13 abgewehrter Abschlüsse, die zwar nicht an Oka Nikolovs Sternstunde gegen die Bayern heranreichen, aber gleichwohl einen neuen Saisonrekord bedeuten, persönlich sowieso.

Chronologische Mängel

Belebendes Element: Mijat Gacinovic leitet mit seinem energischen Ballgewinn die Aufholjagd ein.

Seine eigene Geschichte schreibt auch Nils Petersen fort, der zum 1:2 einköpfte und nun bei sieben Toren gegen die SGE steht, so viele wie gegen keinen anderen Bundesligisten. Der bekannten Gefahr des Sport-Clubs bei ruhenden Bällen stellten die Frankfurter nicht nur die 196 Zentimeter von Dost, sondern vor der Pause mit dem 1,89 Meter langen Torró, der nach Verletzung erstmals seit Mitte Dezember wieder in einem Pflichtspiel zum Einsatz kam, zusätzliche Lufthoheit entgegen, wozu sich auch der gleichgroße Ilsanker zählen darf. Weshalb sich der Österreicher wie Landsmann Hütter umso mehr ärgerte: „Wir kassieren zu einfache Tore nach Standard und Konter.“

Dass die Hausherren mit dem ersten Punkt seit fünf Partien immerhin den Mindestlohn einheimsten, hatte auch mit rechtzeitigen Impulsen von der Bank zu tun. Erst initiierte Mijat Gacinovic mit seiner energischen Balleroberung den Anschlusstreffer, dann besorgte Timothy Chandler 87 Sekunden nach seiner Einwechslung mit seinem fünften Rückrundentreffer den 3:3-Endstand. Infolge dessen störten Chefcoach Hütter nicht primär die Anzahl, sondern vielmehr die Chronologie der beidseitigen Einschüsse: „Wenn wir aus unserer Vielzahl an Chancen in Führung gehen, läuft das Spiel nochmal anders“, war er sich auf der Pressekonferenz sicher. Es wäre der nächste Lösungsansatz einiger Rätsel, welche die Adlerträger nicht nur ihrem Gegner, sondern auch sich selbst bereiteten – und der helfen soll, dass Rechenspielchen allein taktischer Natur bleiben.