14.05.2020
Team

Ausgesaugt

Nach 17 Jahren als Kämpfer mit Herz und ohne Schmerz hängt Gelson Fernandes im Sommer die Siebenmeilenstiefel an den Nagel.

Als Gelson Fernandes mit der Eintracht im vergangenen Jahr das erste Sommertrainingslager in der Schweiz abgehalten hatte, lag die Frage nach einer perspektivischen Rückkehr in seine Heimat nahe, immerhin war Fernandes als Fünfjähriger mit seiner Mutter von den Kapverdischen Inseln nach Sion gezogen. „Zum Leben ja, zum Spielen nicht“, legte sich der heute 33-Jährige im Juli fest. Ein Entschluss ohne konkreten Zeitplan, aber aus tiefster Überzeugung. Knapp zehn Monate später erklärt der Routinier: „Ich bin glücklich, hier meine Karriere beenden zu können. Es ist der richtige Zeitpunkt, die Eintracht hat mir viel gegeben.“ Fernandes wollte selbstbestimmt bleiben, so wie er es auf dem Platz seit seinem Profidebüt 2004 immer gewesen war: als Abräumer, Anführer, Ansprechpartner.

Und das nicht nur für seine Übungsleiter, die sich der Kommunikationsgabe des stets lächelnden Optimisten erfreuten. Adi Hütter bezeichnet seinen Sechser mit der Nummer fünf gerne als „Spielertrainer“. Sondern auch bei seinen Kollegen, die sich der ruhigen und reflektierten Art des Teamplayers erfreuten und als Vorbild nahmen. „Gerade von seiner Aggressivität kann ich mir viel abschauen“, zeigt sich Sahverdi Cetin nicht weniger beeindruckt von der Bissigkeit der Kämpfernatur wie Marijan Cavar: „Ich kann von den älteren und erfahreneren Spielern vieles lernen, was insbesondere für uns junge Spieler wichtig ist.“ Kaum verwunderlich daher, dass auch Djibril Sow am Tag seines Wechsels vor dieser Saison von seinem Landsmann schwärmte: „Er ist ein super Typ und enger Freund, auf dessen Unterstützung ich am Anfang sicher zählen kann.“

Historischer Torschütze

Vergleichbar ging es Fernandes selbst, als dieser 2017 auf der Suche nach einer neuen Herausforderung war und sich letztlich nach intensiver Rücksprache mit den Schweizern Haris Seferovic sowie den früheren Eintracht-Kapitänen Christoph Spycher und Nati-Kollege Pirmin Schwegler für die Mainmetropole begeistern ließ. Ein Transfer, der nicht nur sportlich Sinn zu ergeben schien, sondern auch kulturell wie die der Römer zu Frankfurt passte. Immerhin war der Globetrotter zuvor bei neun Klubs in sechs verschiedenen Ländern aktiv gewesen – mehr Internationalität ging fast nicht. Und auch wenn sich die Verantwortlichen in Fernandes mehr dessen Zerstörer- als Vollstreckerqualitäten bewusst waren, angelten sie sich gewissermaßen einen historischen Torschützen, der im November 2015 erst selbst nicht wusste, was er mit seinem Treffer zum 2:0-Sieg für Stade Rennes in Angers vollbracht hatte. Nämlich als erster Spieler dieses Jahrtausends in der englischen Premier League, der italienischen Serie A, der französischen Ligue 1 und der deutschen Bundesliga getroffen zu haben.

Viele Ligen, viele Länder, viele Eindrücke – und Sprachen. Zur Welt gekommen auf den Kapverdischen Inseln, wo Portugiesisch und Kreolisch auf der Tagesordnung standen, Französisch gelernt in der Schweiz und Frankreich, Englisch in England, Italienisch in Italien, Deutsch beim SC Freiburg, bei dem er die Saison 2013/14 verbrachte. Hinzu kam aufgrund der dauerhaften Gegenwart südamerikanischer Spieler Spanisch. Mit Chinesisch lernt der polyglotte Gelson aktuell gar Sprache Nummer acht.

Zeitung und Tee

Für alle jene Fertigkeiten helfen ihm nicht nur die tägliche Kommunikation in Mannschaftskreisen, sondern auch gemütliche Stunden mit fremdsprachigen Zeitungen und Tee. Weit weniger behutsam lässt es Fernandes wiederum auf dem Rasen angehen und schont dabei weder sich noch Gegner – noch Trikot. Vor dem Anpfiff den Kragen seines Jerseys einzureißen, gilt mittlerweile halb als Ritual, halb als Mittel zum Zweck: „Das mache ich, um Luft zu kriegen. Es ist sonst viel zu eng“, erklärt der DFB-Pokalsieger von 2018, der just in jenem Finale fehlte, weil er sich im vorherigen Halbfinale auf Schalke rekordverdächtige 33 Sekunden nach seiner Einwechslung die Rote Karte abgeholt hatte. Doch Fernandes weiß auch dieses Thema positiv zu betrachten: „Wer weiß, ob wir gewonnen hätten, wenn ich in dieser Szene nicht eingegriffen hätte. Also alles gut, wie es ist!“

Fernandes Wert fürs Team bleibt ohnehin unantastbar, das zeigen auch die Zahlen dieser Saison. In der Bundesliga holte die Eintracht mit 28 Punkten in 24 Spielen im Schnitt 1,17 Zähler, mit dem so gekonnt die gegnerischen Gewerke lahmlegenden Sandstreuer vor der Abwehr waren es 1,56 Punkte. Um Punkte geht es für Fernandes derweil auch in Zukunft. Nachdem er bereits den Bachelor in Sportmanagement per Fernstudium in Lyon in der Tasche hat, strebt er 2021 den Master an. „Ich habe das Ziel vor Augen, eines Tages selbst einen Klub zu führen.“

Nachgelassen, aber nie nachlässig

Klare Gedankengänge, die auch bei seiner Rolle, seine Karriere freiwillig zu beenden, erkennbar sind. Nach 37 Pflichtspielen in der vergangenen Spielzeit stehen in dieser Saison 20 zu Buche, überwiegend verletzungsbedingt, aber auch, „weil ich nicht mehr körperlich konstant in Topverfassung sein kann und länger als früher zur Regeneration benötige“, erläutert Fernandes seinen Entschluss. Spulte der Dauerläufer viele Jahre selten weniger als zwölf Kilometer ab, waren es in dieser Bundesligasaison im Schnitt 11,90 pro 90 Minuten. Das ist immer noch der viertstärkste Wert im Kader.

Aber beweisen muss er ohnehin niemandem mehr etwas. Neben 518 Vereinsspielen absolvierte der Nationalspieler für die Schweiz 67 Partien, nahm an vier Welt- oder Europameisterschaften teil. Besonders in Erinnerung bleibt der 1:0-Siegtreffer im ersten Gruppenspiel der WM 2010 gegen Spanien – es war der erste Nati-Sieg gegen eine A-Nationalmannschaft der Furia Roja überhaupt.

Lehre aus Nachwuchszeiten

Doch den Heldenstatus überlässt der Familienvater zweier Töchter bewusst anderen, womöglich sogar mit Kalkül, wie er einmal verriet. So soll ihm einer seiner Nachwuchstrainer in Sion geraten haben, immer für offensivstarke Mannschaften anzutreten. „Wenn ich in einem Team spiele, dessen Stürmer keine Tore schießen, dann erwarten alle Leute, dass die Gefahr aus dem Mittelfeld kommt. Das aber ist nicht mein Ding. Außerdem würden dann meine Abräumerqualitäten im Mittelfeld nicht voll zur Geltung kommen.“

Auch wenn sich’s erst in wenigen Wochen ausgesaugt hat und Fernandes weniger einen Außenministerposten, als vielmehr eine sportliche Funktion anstrebt, wünscht Eintracht Frankfurt schon jetzt wehmütig: Addio, Adíos, Adeus, Au revoir, Goodbye, Salam – und alles Gude, Gelson Fernandes!