12.08.2022
Team

Chronik einer Auferstehung

Vom vermeintlichen Abstiegsgaranten 2018 zum besten Spieler der Europa League 2022. Filip Kostic und die Eintracht in zehn Etappen.

Die Szene, die der Verwandlung von Filip Kostic im Herzen von Europa den vielleicht stärksten Symbolcharakter verleiht, ist keine Woche her. Im Saisoneröffnungsspiel zu Hause gegen den FC Bayern München fehlt beim Stand von 0:2 nach einer eigenen Ecke die komplette Absicherung, Serge Gnabry ist auf und davon, legt quer auf Thomas Müller, der aus nächster Nähe den Pfosten trifft – unter ärgster Bedrängnis des 60 Meter zurückgeeilten Kostic, dem wenige Jahre zuvor noch der Ruf vorausgeeilt war, „nach hinten vor allem mit dem Auge“ zu arbeiten, um eine Selbsteinschätzung von Uwe Bein zu zitieren.

Die beiden einstigen numerischen Zehner der Hessen – der eine als Spielmacher, der andere als Spielbeschleuniger – trennt zwar knapp drei Dekaden, verbindet aber eine besondere Geschichte. Eine von zehn, die Kostic und die Eintracht seit 2018 zu erzählen haben. Eine elfte wäre in den nächsten Monaten nicht ausgeschlossen...

20. August 2018: Verpflichtung mit Gegenwind

Als Filip Kostic am Main anheuert, hätte es sicher leichtere Umstände geben können als im Spätsommer 2018. Die Eintracht hatte gerade im DFL-Supercup gegen den FC Bayern 0:5 verloren und war als Titelverteidiger in der Ersten Hauptrunde des DFB-Pokals beim Regionalligisten SSV Ulm 1846 ausgeschieden.

Die Rolle des Hoffnungsträgers, die die Verantwortlichen dem Linksaußen zusprachen, teilten Außenstehende nur bedingt. Viele führten lieber die zweifelhaften Bundesligaerfahrungen mit dem VfB Stuttgart und Hamburger SV an, mit denen Kostic jeweils abgestiegen war. Und dann war da noch die Systemfrage...

23. September 2018: Von der Interims- zur Dauerlösung

Im Jahr eins nach Niko Kovac versuchte dessen Nachfolger Adi Hütter zunächst die Rolle rückwärts, stellte um von Dreier- auf Viererkette. Zunächst mit wechselndem Erfolg, ehe nach wettbewerbsübergreifend zwei Siegen und vier Niederlagen Personalnot auf der Linksverteidigung zum Umdenken führte. Back to the roots, 3-4-1-2 statt 4-2-3-1 – mit dem Neuzugang aus Kragujevac auf der linken Außenbahn. Wie sich herausstellen sollte, ein Clou mit nachhaltiger Wirkung. Die Interims- wurde zur Dauerlösung, an der, sofern fit und spielberechtigt, nicht zu rütteln war. Das Portal www.transfermarkt.de verortete den gelernten Außenstürmer 153 von 172 Mal alleine auf der linken Schiene. Mit durchschlagendem Erfolg...

2018/19: Gemeinsamer Aufschwung

Bekanntermaßen sollten sich die Adlerträger im Laufe der Runde berappeln, blieben vor dem Jahreswechsel elf Pflichtspiele ungeschlagen und danach wettbewerbsübergreifend 15 Mal hintereinander ohne Niederlage. Am Ende standen Platz sieben, der Einzug in die Qualifikationsphase für die UEFA Europa League und der internationale Durchmarsch bis ins Halbfinale der UEFA Europa League zu Buche. Kostic war, von je einer Gelbsperre und Schonungsmaßnahme abgesehen, stets gesetzt, kam in seiner Premierensaison auf zehn Treffer und 13 Vorlagen. Rückblickend ein sanfter Aufgalopp für das, was folgen sollte...

4. Februar 2020: Espresso-Geheimnis gelüftet

Voller Energie: Filip Kostic und Kevin Trapp bei ihrem berühmten Espresso-Jubel.

2019/20 erreichten die Hessen in der Liga Platz neun sowie im DFB-Pokal das Halbfinale. Aufmerksamkeit erweckte dabei nicht nur der Doppelschlag gegen Leipzig, als die Adler die Sachsen binnen anderthalb Wochen in beiden nationalen Wettbewerben bezwangen, und dass Kostic im Februar fünf Mal selbst netzte – sondern der exponierte Espresso-Jubel mit Kevin Trapp nach dem Achtelfinale am 4. Februar. „Filip hat sich eine neue Espresso-Maschine gekauft. Wir mögen beide gerne Kaffee und ich habe ihm eine ganz gute Siebträgermaschine empfohlen. Seitdem er die hat, läuft es richtig gut. Vielleicht ist das sein Geheimnis...“, klärte der Schlussmann hinterher über die Hintergründe auf...

2. April 2021: Europas bester Lieferservice

Nach schließlich zwölf Buden und 18 Assists kam die Fußballmaschine im Folgejahr noch besser ins Rollen. Internationale Abstinenz, Rotsperre im Pokal und Verletzungsprobleme im Oktober hinderten den Dauerbrenner nicht daran, in den ihm verbleibenden 30 Bundesligaspielen auf Rekordlevel zu funktionieren. Allein bis April verzeichnete der Flankenspezialist zehn Vorlagen, bis dato in jenem Kalenderjahr kein Spieler in Europas Top-Fünf-Ligen mehr.

Nach den zwei Hereingaben zum 2:1-Sieg in Dortmund am 2. April wies auch kein Akteur aus diesem Kreis einen höheren Assists-pro-Spiel-Quotienten auf: 0,61. „Sein linker Fuß ist wie ein Laser. Aktuell ist Kostic einer der besten Flügelspieler der Welt“, adelte ihn damals Sky-Experte Dietmar Hamann.

Randnotiz aus der Nerd-Ecke: Nach offizieller Bundesligazählart, wonach erzwungene Eigentore und Elfmeter nicht in die Statistik fließen, hätte der Serbe drei Torbeteiligungen weniger auf der Habenseite. Und Uwe Bein seinen Eintracht-Rekord weiter für sich...

22. Mai 2021: Bein gestellt

Historisches Duo: Filip Kostic knackt 2020/21 den Frankfurter Vorlagen- und André Silva den Torrekord innerhalb einer Bundesligasaison.

Der Weltmeister hatte 1992/93 in der Liga zu 17 Frankfurter Treffern aufgelegt, seit offizieller Datenerhebung keiner mehr. Wie derlei Fakten letztlich zusammenkommen, ist dem heute 61-Jährigen aber einerlei. „Ich habe gelesen, dass mein Eintracht-Rekord an Vorlagen pro Saison für ihn erreichbar ist. Ich gönne ihm das, wenn er es schafft. Je mehr Scorerpunkte er macht, desto größer ist Eintrachts Erfolg. Das ist entscheidend, nicht diese Statistik“, schrieb er im Spieltagsflyer blättche. So gesehen hatte Kostic nach zwei Assists zum 3:1 gegen den SC Freiburg am 34. Spieltag gleichgezogen – und gewissermaßen als falscher Zehner seiner Rückennummer alle Ehre gemacht...

14. April 2022: Beben im Camp Nou

Die vorerst größte Bühne bot sich der Eintracht wie auch Kostic im Rahmen der Viertelfinalpaarungen in der UEFA Europa League gegen den FC Barcelona. Nach dem 1:1 im Hinspiel setzten nicht nur 30.000 Frankfurter im Camp Nou das Heimrecht, sondern auch die Spieler das Recht des Stärkeren außer Kraft. Angeführt vom wie entfesselten Kostic, der das 1:0 und zwischenzeitliche 3:0 selbst erzielte sowie das 2:0 vor der Pause servierte...

18. Mai 2022: Der erste Titel – und was für einer!

In der Nacht auf den 19. Mai hält Filip Kostic die erste Klubtrophäe seiner Laufbahn in den Händen.

So wichtig jede einzelne der sechs Torvorbereitungen während der Road to Sevilla auch gewesen sein mag, die Vorarbeit im Estadio Ramón Sánchez-Pizjuán auf Rafael Santos Borré gereichte zum 1:1-Ausgleich, damit zur Verlängerung und dem Elfmeterentscheid. Der 29-Jährige selbst behielt beim vierten von fünf Versuchen die Nerven – und durfte sich am 18. Mai kurz vor Mitternacht über den ersten Mannschaftserfolg seiner Karriere freuen...

20. Mai 2022: Auszeichnung durch die UEFA

Welchen Wert das Energiebündel beim Europapokalsieg hatte, ordnete zwei Tage darauf der europäische Fußballverband ein. Die UEFA kürte Kostic zum besten Spieler der Europa League...

6. Juni 2022: Auszeichnung durch den kicker

An den im Schnitt 14,26 Kilometern pro internationalen Auftritt und unerreichten 157 Flanken kam diesmal auch der kicker nicht vorbei. Ein Jahr zuvor in der Sommerrangliste in der Internationalen Klasse noch hinter Jadon Sancho auf Platz zwei eingestuft, grüßte Kostic nun von der Spitze – und geht nun, wie der für gewöhnliche nicht zum Überschwang neigende Oliver Glasner feststellte, „als Held“. Für einen, der vor vier Jahren erstmal die Abstiegsgespenster aus der Berichterstattung vertreiben musste, nicht die schlechteste Art, sich nach acht Jahren aus der Bundesliga zu verabschieden...

25. August 2022: Adleraugen auf Istanbul

Aber wer weiß, vielleicht kehrt der Brate schneller in den Deutsche Bank Park zurück als gedacht; sein neuer Klub Juventus Turin liegt bei der Auslosung der Champions-League-Gruppenphase in Topf zwei. Die Eintracht in der ersten Trommel...

Mach’s gut, Brate!