16.11.2024
Historie

Das wildeste Remis der Bundesliga

Heute vor 50 Jahren trennen sich die Eintracht und Stuttgart 5:5. Körbel und Neuberger erinnern sich an zahlreiche Kuriositäten.

„Die Abwehrreihen waren wohl gut drauf“, sagt Willi Neuberger trocken, als er nach seinen Erinnerungen an den 16. November 1974 gefragt wird. Um nach ein, zwei Sekunden lachend hinterherzuschieben: „Ich weiß heute nicht mehr, wer die Fehler gemacht hat.“ Neuberger hatte nicht nur während des Spiels eine der Hauptrollen inne, sondern schon in den Tagen zuvor hatte er die Schlagzeilen bestimmt.

5:3-Führung kurz vor Schluss reicht nicht

Doch zunächst die Fakten. Zehn Tore in einem Bundesligaspiel gab es einige Male, fünf auf beiden Seiten aber nur genau zweimal. An jenem windigen Novembertag im Jahr 1974 nämlich, als Eintracht Frankfurt vor – aus heutiger Sicht – lediglich 15.000 Zuschauer den VfB Stuttgart empfing. Mancher Fußballfan mag sich an ein 6:6 zwischen dem FC Schalke 04 und Bayern München erinnern, das war 1984 allerdings ein DFB-Pokalspiel mit insgesamt 120 Minuten Spielzeit. In der Bundesliga sorgten die Gelsenkirchener schon mal für ein 5:5, im September 1973 – ebenfalls gegen den FC Bayern. Zweimal 5:5 binnen 14 Monaten also im Oberhaus – davor und danach nie wieder. Generell sind zehn Tore in einem Bundesligaspiel schon eine Seltenheit, 22-mal passierte es seit 1963.

Willi Neuberger zieht ab.

Ärgerlich war für die Knappen seinerzeit, eine 5:2-Halbzeitführung aus der Hand gegeben zu haben. Auch bei der Eintracht wähnte man sich schon auf der Siegerstraße. Willi Neuberger, Torschütze zum 5:3 in der 82. Minute, erzählt: „Ich dachte nach meinem Treffer: Das wird wohl reichen“. Mitnichten. Hermann Ohlicher (84.) und Egon Coordes (89.) glichen noch aus für die Schwaben gegen die Eintracht, für die vieles in dieser Phase nicht nach Wunsch lief. Nach dem 4:0 gegen Düsseldorf Mitte Oktober folgte das 1:2 bei den Bayern trotz Hölzenbeins 1:0-Halbzeitführung, zwei Niederlagen und damit das Aus im Europapokal der Pokalsieger gegen Dynamo Kiew, zwischen den beiden internationalen Aufgaben das schwer erkämpfte 2:1 nach Verlängerung im DFB-Pokal bei Union Solingen und ein 0:0 gegen Offenbach, und das 1:2 bei Hertha BSC.

Neubergers Premiere nach Badewannen-Lektüre

Nach dem Hertha-Spiel gab es jedoch einen Lichtblick in Eintrachts Kader. Willi Neuberger konnte unter der Woche verpflichtet werden, gerade so rechtzeitig war er gegen den VfB für die Eintracht spielberechtigt. Neuberger hatte für den BVB, Werder Bremen und den Wuppertaler SV seit 1966 bereits über 250 Bundesligaspiele absolviert, mit dem WSV war er im Vorjahr als Neuling gar Vierter geworden. Die Mannschaft war überaltert – und teuer. Finanznöte waren absehbar – Willi Neuberger indes kicker-Leser. Der damals 28-Jährige studierte regelmäßig in der Badewanne das Fachblatt. „Da fiel mir auf, dass die Eintracht hinten raus keinen guten Kader hatte, meist mit Amateuren auffüllen musste.“

Er war schnell mein größter Fan.

Willi Neuberger über Trainer Dietrich Weise

Aus seiner Zeit beim BVB kannte er den Spielervermittler Bachmann aus Neu-Isenburg, der wiederum mit Spielausschuss-Boss Berger bei der Eintracht Kontakt aufnahm. Berger habe gesagt: „Wenn der nicht zu teuer ist, holen wir den“. Berger musste jedoch noch Trainer Dietrich Weise überzeugen, „er wollte mich am Anfang nicht“. Das Ende dieses Transferpokers ist der Beginn einer „Liebesbeziehung“, in mehrfacher Hinsicht. Neuberger absolviert bis 1983 fast 350 Spiele für die Eintracht, gewinnt zwei große Titel, wird im Adlerdress der erste Spieler mit über 500 Bundesligaeinsätzen (heute Platz acht mit 520 Partien) – und wird nach seiner Karriere im fließenden Übergang Co-Trainer bei der Eintracht. Unter Dietrich Weise! „Er war schnell mein größter Fan.“

Ein „dynamisches Debüt“

Von einem „dynamischen Debüt“ ist in der Presse die Rede nach Neubergers Einstand beim 5:5 gegen den VfB. Karl-Heinz Körbel, fast neun Jahre sein Mitspieler, sagt: „Willi war schnell wie ein Windhund und gleichzeitig technisch einer der besten Fußballer, die wir je bei der Eintracht hatten.“ Neubergers „herrliches Tor“ (Pressestimme) zum 5:3, Körbel (3:2, 4:3) und auch Roland Weidle zum 2:2 trafen am 16. November jeweils per Kopf. „VfB-Torwart Gerhard Heinze war recht klein“, erinnert sich Körbel. Zum 1:1-Ausgleich hatte Bernd Hölzenbein per Freistoß getroffen.

Tor für die Eintracht: Stuttgarts Torwart Gerhard Heinze kassiert vier Kopfballgegentreffer.

Eintrachts Keeper Dr. Peter Kunter hatte unterdessen damit zu kämpfen, dass er nicht zum ersten Mal vom Frankfurter Anhang ausgepfiffen wurde. Nach der Partie sagt er: „Ich möchte eine schöpferische Pause machen und im nächsten Vierteljahr, wenn es geht, nicht im Eintracht-Tor spielen“, sagt er direkt im Anschluss der Partie – und einige ahnten schon, dass es das überraschende Karriereende sein könnte. Tatsächlich sollte er nur noch mal zwischen März und Mai 1976 kurzzeitig in den Kasten zurückkehren.

Drin das Ding. Insgesamt zehn Treffer fallen am 16. November 1974 zwischen Frankfurt und Stuttgart.

Dass es zwischen der Eintracht und dem VfB immer mal wieder zu „wilden Spielen“ (Körbel) kommt, beweist auch die jüngere Vergangenheit mit dem 3:2-Auswärtssieg der Adlerträger am vergangenen Sonntag in Bad Canstatt. In den vergangenen 98 Pflichtspielen zwischen beiden Klubs gab’s übrigens nur ein 0:0, unterdessen erlebte Körbel auf dem Platz noch im Stuttgarter Gastspiel zuvor (März 1973, nach 0:3) sowie im Duell direkt nach dem 5:5 im Mai 1975 (Siegtreffer in der Schlussminute) jeweils einen spektakulären Frankfurter 4:3-Sieg.

Auch in jenen Partien waren die Abwehrreihen wohl, frei nach Willi Neuberger, „nicht so gut drauf“.