06.05.2022
Europapokal

Die Sonnenseite des Fußballs

Feuertaufe für Tuta, Allzweckwaffe Toure, Gassenhauer Aroni und eine Stadt in Weiß. Die Eintracht und Europa. Ein Märchen voller Wendungen.

Einordnung: Eurofighter auf allen Ebenen

Spätestens wenn im Stadtwald Hanna Aroni den Vorzug vor dem Polizeichor Frankfurt erhält, nähern sich die Indizien, dass der sportliche Wahnsinn Einzug gehalten haben muss im Herzen von Europa. Das verbliebene Gros der rund 45.000 Heimfans im Deutsche Bank Park trällerte synchron mit den Lautsprechern „Eviva Espana“, machten die Nacht auf Freitag für kurze Zeit zum Tag. Dem Tag, als Eintracht Frankfurt ins Finale der UEFA Europa League 2022 einzog. Exakt 62 Jahre, nachdem der Traditionsverein im Halbfinale des Europapokals der Landesmeister die Glasgow Rangers 6:3 bezwang. Ausgerechnet den Endspielgegner, der am 18. Mai in Sevilla wartet. Fast zu kitschig, um wahr zu sein.

Doch an der Faktenlage besteht kein Zweifel. Inklusive Qualifikationsphase hatten sich 58 Klubs auf die Road to Sevilla begeben, im 138. Turnierspiel blieb Frankfurt als einziger Vertreter weiter ohne Niederlage. Dank eines 1:0 gegen den West Ham United FC. Auf dem Papier mit das unspektakulärste Ergebnis, im Resultat aber wahlweise für Kevin Trapp „der schönste Tag meiner Karriere“, für Sebastian Rode „einfach geil“ oder für Oliver Glasner, erst seit dieser Saison in Amt und Würden am Main: „Keiner wird diesen Abend jemals vergessen.“

Geschichte des Spiels: Stammvertreter Toure

Eine Aussage, die die meisten Eintrachtler in der Vergangenheit wohl oder übel auch mit gegenteiligen Erfahrungen verbinden würden. Die jüngste liegt mit dem Chelsea-Drama kaum drei Jahre zurück. Einen der tragischen Helden von der Stamford Bridge erwischte es auch diesmal im Rückspiel. Martin Hinteregger musste nach sieben Minuten angeschlagen den Rasen verlassen. Ausgerechnet der Abwehrchef, gefühlt genau für diese Europapokalschlachten auf die Welt gekommen. Die buchstäbliche Kettenreaktion, die in der Abwehr folgte, schrieb sodann ihr eigenes Märchen.

Almamy Toure lieferte wie seine Kollegen einen souveränen Auftritt in der Defensive ab.

Weil der Anfang der Woche fiebrige Österreicher „unbedingt spielen“ wollte, „hatten wir vorher ein paar Szenarien durchgedacht, wenn er gar nicht oder nicht zu Ende spielen könnte. Daher wussten wir, wie wir wechseln“, erklärte Coach Glasner im Nachgang das abermalige Vertrauen in Almamy Toure, der somit in den vergangenen drei K.-o.-Duellen direkt oder indirekt nacheinander die gesperrten Tuta, Evan Ndicka und Hinteregger ersetzen konnte – und schließlich den vorletzten Pass zum Tor des Abends gab, als er Ansgar Knauff in Szene setzte, der für Rafael Santos Borré auflegte, bisher der einzige Adlerträger mit internationaler Endspielerfahrung. Unter anderem auch Toure war 2017 mit Monaco in der Vorschlussrunde der UEFA Champions League an Juventus Turin gescheitert.

Zahl des Spiels: 12 gegen 10

Insofern perfektes Timing, nachdem Aaron Cresswell sieben Minuten zuvor Rot gesehen hatte. Ausgangspunkt war Jens Petter Hauge, der den verletzten Jesper Lindström vertreten durfte – und mit seinem Sprint die Notbremse provozierte. Somit hieß es mit dem weißen Anhang drum herum für über 70 Minuten nicht mehr Zwölf gegen Elf, sondern Zwölf gegen Zehn.

Losgelöst davon war es nicht nur optisch beeindruckend, wie die Hausherren ihrer selbsterklärten Marschroute, „von Beginn an auf Sieg“ zu spielen bis zum Schlusspfiff treu blieben, unabhängig von Spielstand und Personal auftraten, als müssten sie einen Rückstand wettmachen, sondern schließlich auch ohne Gegentor blieben. Statistisch deshalb bemerkenswert, weil dies in den vorangegangen 19 Europa-League-Partien ein einziges Mal gelungen war. Selbst beim zuvor einzigen Heimsieg überhaupt im Kalenderjahr 2022 gegen Bochum musste Kevin Trapp beim 2:1 ein Mal hinter sich greifen.

Die Hammers ihrerseits blieben derweil zum dritten Mal in zwölf Begegnungen im laufenden Wettbewerb ohne eigenen Treffer. Auszeichnung genug nicht nur für genannten Toure, sondern ebenso Ndicka, der Jarrod Bowen im Griff hatte und in den wenigen brenzligen Strafraumszenen notfalls auf der Grundlinie rettete. Und nicht zuletzt für Tuta, der unvermittelt erstmals in der Defensivzentrale gefragt war und mit einer Selbstverständlichkeit den zehn Jahre älteren Michail Antonio an dessen Grenzen trieb.

Ausblick: Sevilla reloaded

An diese stieß kurz vor 23 Uhr auch Kevin Trapp, der inmitten des weiß gefluteten Rasens „zwischendurch nicht mehr atmen“ konnte, „weil alle auf mir draufhingen. An der Reaktion sieht man, wie die Fans das wahrnehmen. Das ist etwas ganz Besonderes“. Genau wie das erste Europacupfinale seit 42 Jahren, das sich die Hessen nach sieben Siegen und fünf Remis erarbeitet haben.

Dass dieser Ausbeute 13 von 45 möglichen Punkten in der Bundesligarückrunde gegenüberstehen, ist eine andere Geschichte. Die die Adler bis zum 18. Mai an zwei Spieltagen gegen Mönchengladbach und Mainz noch etwas aufpolieren können. Autokorsos wie vergangene Nacht würde das zwar nicht nach sich ziehen. Dafür werden die Flugbuchungen für Sevilla, zum zweiten Mal nach dem Achtelfinale bei Betis, in den kommenden Wochen in die Höhe schnellen.

Nicht, weil in Espana offenbar die Sonne scheint bei Tag und Nacht. Sondern weil Eintracht Frankfurt europäisch in dieser Spielzeit mehr denn je auf der Sonnenseite des Fußballs steht.