Situation
Sicher hängen die Trauben in der Hafenstadt nicht mehr so hoch wie nach der Erstauflage der UEFA Champions League im Jahr 1993, als im Münchner Olympiastadion so klangvolle Namen wie Fabien Barthez, Marcel Desailly, Didier Dechamps oder Rudi Völler den AC Mailand mit 1:0 bezwangen. Trotz danach immer wiederkehrender Nebenkriegsschauplätze arbeitete sich das Gründungsmitglied der Ligue 1 zuletzt aber in die nationale Spitzengruppe zurück.
Während in Frankreich mit Ausnahme der neunten Meisterschaft 2010 erst der einstige Abonnementmeister Olympique Lyon und in jüngerer Vergangenheit Paris Saint-Germain die Vormachtstellung innehatten, hätten die Blau-Weißen 2018 beinahe an vergangene kontinentale Heldentaten angeknüpft. Doch wie im Heimatland gab es auch in der UEFA Europa League mit Atlético Madrid (0:3) einen stärkeren Kontrahenten zu viel.
Die vergangene Transferperiode erweckte nicht unbedingt den Anschein von Resignation. So verpflichtete die sportliche Führung um Andoni Zubizarreta, einst viereinhalb Jahre Baumeister des FC Barcelona, mit Kevin Strootman einen neuen Fixpunkt für das zentrale Mittelfeld. Der Transfer des Niederländers ist auch im Zusammenhang mit Trainer Rudi Garcia zu sehen, der bereits bei der AS Rom mit dem 28-Jährigen zusammengearbeitet hat. Dazu gesellen sich unter anderem zwei Juwelen vom Balkan: Der Serbe Nemanja Radonjic gilt offensive Alternative, Duje Caleta-Car als Hoffnungsträger für die Abwehr. Der Kroate ist nebenbei Adi Hütter aus gemeinsamen Tagen beim FC Salzburg bekannt und wurde gemeinsam mit Ante Rebic Vizeweltmeister.
Ansonsten kann Coach Garcia auf die bewährte Achse um Torwart Steve Mandanda, Innenverteidiger Adil Rami, Triple-Gewinner Luiz Gustavo und Torjäger Dimitry Payet bauen. Auch wenn mit Mandanda, Rami und Florian Thauvin drei Weltmeister im Kader stehen, gilt für das routinierte Ensemble: Titelsammler - weniger. Titeljäger - zweifellos!
Formkurve
Nach fünf Spieltagen scheint Marseille als einziger französischer Klub der Übermacht aus Paris Paroli bieten zu können. Während der Doublesieger ohne Punktverlust bereits wieder die Liga anführt, hat sich Marseille unter anderem mit einem 3:2 in Monaco zum ersten Verfolger gemausert. Einzig die unerwartete 1:3-Pleite bei Aufsteiger Olympique Nimes trübte den positiven Eindruck des Spätsommers. Grundsätzlich gelten die Franzosen im Stade Vélodrome als schwer zu schlagen. Inwiefern dies auch unter Ausschluss der Öffentlichkeit gilt, bleibt abzuwarten.
Taktiktafel
Garcia setzt auf das seit seinem Amtsantritt im Oktober 2016 häufig praktizierte 4-2-3-1-System. Diese Anordnung, die aufgrund ihrer flexiblen Handhabe zeitweise europaweit ein Bestseller war, garantiert zunächst eine gewisse kalkulierbare Stabilität, zumal sich Payet bei gegnerischem Ballbesitz neben die Sturmspitze schiebt und dadurch eine Art 4-4-2/4-4-1-1 entsteht. Der Offensivstar hilft wiederum bei eigenem Ballbesitz dabei, die Seiten zu überladen, um gemeinsam mit den Flügelstürmern für Durchbrüche zu sorgen. Das robuste Defensivzentrum hat vor allem absichernde Aufgaben, was zwar lange Ballbesitzphasen in der eigenen Hälfte ermöglicht, allerdings oft nur bis zum Mittelkreis zielführend ist. In der letzten Ebene helfen wiederum oft Schnelligkeit oder Geniestreiche der Einzelspieler.
Spieler im Fokus: Florian Thauvin
Auch wenn Florian Thauvins Beitrag zum Weltmeistertitel 2018 mit einem Kurzeinsatz im Achtelfinale überschaubar ist, darf allein die Nominierung für die Equipe Tricolore aufhorchen lassen, wenn man sich die unzähligen weiteren französischen Flügelspezialisten vor Augen hält. In dieser Hinsicht kommt dem 25-Jährigen auch zugute, dass er nicht auf eine Position festgelegt ist, sondern wahlweise auch im offensiven und zentralen Mittelfeld Wirkung entfalten kann. Nicht weniger variabel waren bisher auch die Profistationen des Kickers aus Orléans, der 2013 ohne ein Pflichtspiel für den OSC Lille nach Marseille gewechselt ist. Dass er zwischenzeitlich auf der Insel bei Newcastle sein Glück suchte, aber nicht fand, war ein Faktor, weshalb der frühere Juniorennationalspieler zumeist unter dem Radar der Öffentlichkeit flog. Davon kann aktuell keine Rede sein. Mit fünf Toren in fünf Spielen führt der dribbel- und abschlussstarke Thauvin die Torschützenliste der Ligue 1 an.