Ralph, weiß du noch, was am 18. September 2002 war?
Da könnte Länderspielpause gewesen sein, daher vermutlich ein Juniorenländerspiel?
Genau, du wurdest bei der deutschen U20 für Alex Meier eingewechselt, ihr beide habt eine Vergangenheit bei unserem nächsten Gegner FC St. Pauli …
Alex und ich kennen uns schon ewig, sind beide Jahrgang 1983 und haben mehrere DFB-Auswahlen zusammen durchlaufen. Das erste Mal müsste 2001 gewesen sein. Er war noch bei St. Pauli und ich bei Alemannia Aachen.
Was verbindest du mit der Zeit auf St. Pauli?
Damit könnte ich zwei Abende füllen (lacht). Es waren acht abwechslungsreiche, sehr intensive und extrem emotionale Jahre. Von der dritten bis zur Bundesliga über das DFB-Pokalhalbfinale 2006 und Derbysieg sind viele Dinge passiert.
Wie hast du die Entwicklung des Klubs seither wahrgenommen?
Der Verein von damals ist mit dem von heute nicht mehr zu vergleichen, es hat sich viel verändert, auch personell. Ich glaube, der Einzige, der von früher noch dabei ist, ist der Zeugwart. Das ist 14 Jahre später eine andere Welt und völlig normal. Wenn wir noch weiter zurückgehen, hat der Verein eine wirklich bemerkenswerte Entwicklung genommen. Anfang der Nullerjahre nach zwei Abstiegen in Folge und mit um die drei Millionen Euro Schulden, was für den Verein sehr viel Geld war, gab’s eine große Rettungskampagne. Dann hat die Geschichte ihren Lauf genommen mit dem Pokalhalbfinale 2005/06, was den Verein finanziell auf gesunde Beine gestellt hat, dem begonnenen Stadionumbau 2007 und der Fertigstellung 2015. Auch die Geschäftsstelle ist gewachsen. Zudem haben sie in den vergangenen Jahren kluge sportliche Entscheidungen getroffen, sind souverän aufgestiegen, spielen in der Bundesliga eine vernünftige Rolle und stehen für mich wenig überraschend überm Strich.
Du hast das alte und neue Millerntor angesprochen. Wie beim bislang letzten Bundesligajahr 2010/11 ist auch aktuell die Heimbilanz überschaubar. Was hat es mit dem Mythos Millerntor denn auf sich?
Ich kenne das alte als Spieler und das neue als Besucher, möchte aber nicht vergleichen. Wie früher keine Rasenheizung zu haben, wäre jetzt unvorstellbar. Anders hätten wir es Anfang Januar 2006 gegen Bremen auf Schnee und Eis gar nicht so angehen können [der damalige Regionalligist besiegte den Bundesligisten 3:1; Anm. d. Red.]. Wir sprechen hier im wahrsten Sinne des Wortes von Jahrzehnten des Wandels. Es könnte sein, dass sich durch den Umbau vieles erstmal finden musste und die Mannschaft eine Liga höher häufiger das Spiel machen muss. Dass St. Pauli auswärts mit einer eher abwartenden Spielweise auftrumpfen kann, haben sie vor der Winterpause in Stuttgart eindrucksvoll bewiesen.
Inwiefern hat sich die fußballerische Ausbildung seit deiner aktiven Zeit bis heute verändert?
Dazwischen liegen grob zwei Spielergenerationen, natürlich hat sich die Ausbildung extrem professionalisiert. Alles, was über einen Chef- und Co-Trainer hinausging, war meinerzeit undenkbar. Mittlerweile ist die grundsätzliche Qualität der jungen Spieler eine ganz andere.
Im Mai 2022 hast du bei der Eintracht den neu geschaffenen Posten als Übergangstrainer übernommen. Wie kam’s dazu?
Markus Krösche und ich kennen uns schon seit Spielerzeiten, sind 2004 das erste Mal aufeinandergetroffen und auch nach unserer aktiven Karriere immer in Kontakt geblieben, weil wir uns selbst als Gegner immer verstanden haben – die 90 Minuten mal ausgeklammert (lacht). Zu meiner Zeit bei DAZN habe ich Markus immer kontaktiert, wenn ich kurz vor einem Spiel mit Beteiligung eines Klubs, für den er arbeitete, letzte Infos benötigt habe. Darüber hinaus haben wir immer auch über Fußball im Allgemeinen gesprochen. Irgendwann hat er angesprochen, dass er gerne die Schnittstelle zwischen Profi- und Nachwuchsbereich optimieren würde und hat mich gefragt, ob ich mir über eine etwaige Umsetzung Gedanken machen könnte. Anschließend habe ich ihm und Timmo Hardung mein Konzept vorgestellt, wir haben ein bisschen daran gefeilt und am Ende bin ich froh, dass ihnen meine Ideen gefallen haben. Damit ging es los.
Was bringt dein Aufgabenprofil mit sich?
Mein Aufgabengebiet erstreckt sich über Trainer- und Koordinatorentätigkeiten bis hin zu Mentor, Kumpel und gleichzeitig größter Kritiker der Spieler. Es geht um das richtige Gleichgewicht. Das Hauptaugenmerk liegt auf der Verzahnung des NLZ, besonders mit Blick auf die Spieler, die in der U21 zum Einsatz kommen, und dem Lizenzspielerbereich und damit auch den drei Standorten Riederwald, Dreieich und ProfiCamp. Das betrifft Kommunikation, Koordination und schlussendlich das Wichtigste: die individuelle Betreuung der Spieler, sobald es in Richtung Erwachsenenbereich geht. Jeder Spieler hat seine eigenen Aspekte, an denen er arbeiten muss, damit er die nächsten kleinen und vielleicht irgendwann den großen Schritt Richtung Profifußball machen kann.
Wie definiert ihr die Auswahl an Toptalenten?
Wir identifizieren die Kandidaten als Team in enger Absprache zwischen Timmo Hardung, neuerdings Pirmin Schwegler, Alex Richter, Nino Berndroth sowie den U21-, U19- und U17-Trainern. Ein enger Austausch ist unabdingbar, um auf dem aktuellsten Stand zu bleiben und beurteilen zu können, bei wem es Sinn macht, ihn beispielsweise in der U21 spielen oder mit den Profis trainieren zu lassen.
Gilt das auch für verliehene Spieler wie Elias Baum oder Nacho Ferri?
Elias ist ein sehr gutes Beispiel. Er hat im vergangenen Jahr als U19-Spieler bei der U21 begonnen, wo ich ihn noch intensiver als zuvor betreut habe. Im Herbst haben wir ihn fest in den Profikader hochgezogen, dennoch hat er weiter viele Spiele für die U21 bestritten. Entsprechend war ich viel beim Training der Profis dabei, um zu sehen, wie er und Nacho sich zurechtfinden, und Feedback geben zu können. Die individuelle Begleitung wird in diesem Stadium wiederum weniger, weil sie als fester Teil des Profikaders stärker von diesem Trainerteam gefordert und gefördert werden. Das ändert nichts an der Tatsache, im regelmäßigen Austausch zu bleiben, so auch, nachdem beide ausgeliehen sind. Wir möchten den Spielern das Gefühl geben, dass wir sie weiter auf dem Schirm haben und uns Gedanken über ihre Entwicklung machen.
In der U21 purzeln die Altersrekorde. Wie bewertest du das?
Die Debüts junger Spieler in der U21 in den vergangenen Jahren sind sicher auch eine positive Begleiterscheinung der Gesamtphilosophie des Klubs, junge Talente so früh und so weit wie möglich zu fördern. Damit geht einher, dass ein U17-Spieler mal in die U21 reinschnuppert oder permanent in der U19 spielt. Wenn wir eine Perspektive erkennen, spielen sie so hoch wie wir es ihnen zutrauen. Das ist keine Frage des Alters, sondern allein von Talent und aktuellem Leistungsvermögen. Das Wichtigste ist und bleibt Spielpraxis. Deshalb käme uns nicht in den Sinn, einen 17-Jährigen permanent bei der U21 mitzunehmen, wenn er dort wenig bis gar nicht zum Einsatz käme. Gleichzeitig machen wir uns immer bewusst, dass wir es mit Teenagern zu tun haben und den Spagat hinkriegen müssen zwischen: der genießt Welpenschutz und der muss liefern, weil er es mit Erwachsenenfußball zu tun hat. Diesen Unterschied zwischen Junioren- und Männerfußball müssen die Jungs schnell verinnerlichen.
Was bedeutet das für die individuelle Förderung?
Für mich geht es weniger darum, mit den Jungs Extraschichten zu schieben, im Mannschaftstraining sind sie bereits bestens geschult und ausgelastet. Aber ein Mannschaftstrainer betreut an die 25 Spieler und hat darüber hinaus viel mit Spielvor- und Nachbereitung zu tun. Entscheidender ist dann für mich, am Ende einer Einheit das Bewusstsein für gewisse Situationen zu schärfen und gezielte Schwerpunkte zu setzen. Dabei geht es viel um Einstellung, Mindset und Resilienz. Denn mit der eigenen Herangehensweise steht und fällt nahezu alles. Deshalb führen wir viele Gespräche, um die Talente für die Herausforderungen im Erwachsenenbereich zu sensibilisieren. Dort gibt es keine Zeit, etwas auf die leichte Schulter zu nehmen; jedes Spiel, jedes Ergebnis zählt. Von Vorteil finde ich, keine offiziellen Meetings anzusetzen, sondern ungezwungen ins Gespräch zu kommen, um ein Gespür dafür zu bekommen, wie der Einzelne tickt.
In den vergangenen Monaten waren Noah Fenyö und Ebu Bekir Is am häufigsten im Profitraining. Ein paar Worte zu ihnen?
Für sie gilt genau das eben angesprochene: Wir wollen junge talentierte Spieler vor größtmögliche Anforderungen stellen, um ihnen die Möglichkeit geben, zu lernen, die nächste Stufe zu meistern. Noah hat eine richtig gute Sommervorbereitung gespielt und im Profitrainingslager in den USA einen sehr guten Eindruck hinterlassen. Er hat das Trainerteam überzeugt, im Dunstkreis der Profis zu bleiben. Wichtig ist, dass er dennoch weiter in der U21 Spielpraxis und Stabilität bekommt. Ebu ist wenig später einen ähnlichen Weg gegangen, hat für die U21 debütiert und, als sich während der Länderspielpausen die Chance ergab, oben nachhaltig auf sich aufmerksam gemacht. Ich bin sehr froh darüber, dass das Trainerteam offen dafür ist, die Jungs persönlich unter die Lupe zu nehmen. Dino Toppmöller und sein Team schauen sich immer die Highlights der Nachwuchsspiele an und sind immer bestens informiert; ich kann ihnen zu Wochenbeginn selten etwas Neues erzählen, weil sie vieles bereits gesehen haben. Dieses ehrliche Interesse ist für die Arbeit des NLZ von enormer Bedeutung.
Von der Zukunft nochmal zurück zur Gegenwart: Dein Tipp für Samstag?
Ich rechne mit einem sehr knappen und hart erarbeiteten Sieg für uns. St. Pauli hat gegen Mannschaften aus dem oberen Tabellenbereich gezeigt, dass sie sehr unangenehm sein können. Sie spielen sehr effektiv und haben die zweitwenigsten Gegentore der Liga zugelassen. Insofern kommt ein harter Brocken auf uns zu. Ich bin aber davon überzeugt, dass die Pause unseren Jungs gutgetan hat, sie durchschnaufen konnten und sich – sagen wir mit einem Tor Unterschied – durchsetzen werden.