07.05.2019
UEFA Europa League

„Fast alles spricht für Chelsea! Aber…“

Tony Woodcock war als Spieler in Deutschland und England aktiv, für ein Jahr auch als Funktionär bei der Eintracht. Aus Erfahrung vermengt der Experte Logik mit Legendenbildung.

Spricht Tony Woodcock über das Halbfinalrückspiel, fühlen sich Kenner des Pokalfilms gewissermaßen an die Worte von Niko Kovac erinnert: „Sie hatten alles – und mussten nur noch gewinnen.“ Mit ‚sie‘ war 2018 der FC Bayern gemeint. Ein Jahr später geht Woodcock, zwischen 2001 und 2002 Sportdirektor bei Eintracht Frankfurt, mit Blick auf den Chelsea FC ins Detail: „Sie haben ein Auswärtstor, sich schon für die Champions League qualifiziert, deswegen die nötige Lockerheit und nicht zuletzt den Heimvorteil. Die Statistiken sprechen ohnehin für die englischen Mannschaften“, verweist der Wahl-Londoner auf die Erfahrungen dieses Jahr in der Königsklasse, als nacheinander Bayern, Borussia Dortmund und der FC Schalke 04 gegen britische Vertreter die Segel streichen mussten.

Losgelöst von letzterer Tatsache, für welche die Hessen nichts können, sieht der Vizeweltmeister von 1982 in jedem angeführten Argument aber auch eine Chance für die Eintracht. Von hinten aufgerollt „dürfen sich die Fans auf ein schönes Stadion freuen“, spricht Woodcock aus eigener Erfahrung. Im Trikot des FC Arsenal hat der frühere Stürmer zahlreiche Schlachten an der Stamford Bridge geschlagen. „Innerhalb Londons gab es immer viele Derbys, aber Arsenal gegen Chelsea stand über allem“, erinnert sich der 63-Jährige. Wenngleich die Stimmung damals aggressiver gewesen sei.

Blaue Wundertüte

Wie aggressiv die Blues am Donnerstag zu Werke gehen werden, hängt für Woodcock auch von deren Einstellung ab. Denn ohne den Druck, über den internationalen Titel in die UEFA Champions League gelangen zu müssen, könne die genannte Lockerheit unter Umständen auch in zu große Gelassenheit umschlagen: „Chelsea ist in dieser Saison eine Wundertüte“, weiß Woodcock, dass sich viele Konstellationen in verschiedene Richtungen auslegen lassen. „Man muss nur daran glauben.“

Zumal das 1:1 aus dem Hinspiel einzig bei Anpfiff das Weiterkommen für die Hausherren bedeuten würde: „Schießt Frankfurt nach fünf Minuten ein Tor, steht das Geschehen plötzlich wieder Kopf“, hält Woodcock, der mit dem 1. FC Köln 1980 selbst das DFB-Pokalfinale sowie 1981 das Halbfinale im UEFA-Pokal erreichte, in der Praxis einfach alles für möglich.

Unabhängig vom Ausgang des Spiels attestiert Woodcock der Eintracht schon jetzt „eine super Entwicklung. Vierter in der Liga, Halbfinale in der Europa League – das hätte doch vor der Saison jeder unterschrieben!“ Den anhaltenden Aufwärtstrend macht der WM-Teilnehmer von 1982 in erster Linie am unaufgeregten Umfeld fest, wozu gleichwohl der sportliche Erfolg zuträglich sei. „Aber auch nach dem schwierigen Saisonstart haben alle die Ruhe bewahrt, an Trainer Adi Hütter festgehalten. Der offensive, attraktive Spielstil hat sich durchgesetzt. Die Verantwortlichen um Fredi Bobic machen eine klasse Job. Ich freue mich für ihn.“

Alte Verbindungen

Von der Aufbruchstimmung im Stadtwald konnte sich Woodcock erst vergangene Woche ein Bild machen, als er sich mit Finanzvorstand Oliver Frankenbach und Vorstandsberater Rainer Falkenhain getroffen hat. „Mit Präsident Peter Fischer tausche ich mich über Textnachrichten aus“, hält Woodcock immer noch Verbindungen zu seiner früheren Wirkungsstätte.

Wo er aber auch schon als Schreckgespenst in Erscheinung getreten ist. Am 28. Februar 1978 trat Woodcock mit dem 1. FC Köln im Waldstadion an und schoss die von Christoph Daum trainierten Geißböcke mit einem Doppelpack zum 2:1-Auswärtssieg. Ein Ergebnis, mit dem in seinen Augen in London objektiv gesehen nicht zu rechnen sei. „Aber es hat auch keiner damit gerechnet, dass die Eintracht ins Halbfinale kommt! Überrascht war ich trotzdem nicht.“ Ja, was denn nun? „Das ist Fußball, es kann immer alles geschehen“, löst sich Woodcock von rationalen Überlegungen, denn: „Die Eintracht hat für 90 Minuten diese eine riesige Chance.“ Ganz gleich, wie groß oder gering diese auch erscheinen mag.