30.09.2022
Historie

„Haben uns in einen Rausch gespielt“

9:0 gegen Widzew Lodz. Vor genau 30 Jahren gewinnt die Eintracht so hoch wie nie zuvor oder danach. Es ist die Sternstunde eines 19-jährigen Dribblers und eines späteren Bundesliga-Torschützenkönigs.

Nichts, oder zumindest so gut wie gar nichts, hatte an jenem 30. September 1992 im Europapokalspiel gegen Widzew Lodz auf ein Schützenfest hingedeutet. Zwar spielte die Eintracht in der Bundesliga im Jahr nach der äußerst knapp verpassten Meisterschaft wieder vorne mit, hatte aber in den vergangenen fünf Spielen nur einmal gewonnen – und das war ein schwer erkämpfter 3:1-Erfolg im DFB-Pokal beim unterklassigen 1. SC 08 Bamberg.

Die weiteren vier Partien endeten remis, darunter auch das Hinspiel in der ersten Runde des UEFA-Pokals gegen den polnischen Vertreter. Die Mannschaft aus Widzew, einem Vorort von Lodz, hatte sich erstmals nach sechs Jahren wieder für den internationalen Wettbewerb qualifiziert und im eigenen Stadion gar mit 2:0 geführt, ehe Tony Yeboah und Dirk Wolf in der zweiten Halbzeit noch für den Ausgleich sorgten.

Am 30. September 1992 ab 18 Uhr ging es im Waldstadion vor 11.200 Zuschauern darum, die nächste Runde zu erreichen. „Wir müssen eine Runde weiterkommen, alles andere wäre eine Riesen-Enttäuschung“, beteuerte Torwart Uli Stein im Vorlauf des Spiels. Dieser festen Überzeugung schienen auch seine Teamkollegen zu sein, denn es dauerte nur acht Minuten, bis bereits das erste Tor des Spiels fiel. Sturmspitze Axel Kruse netzte per Schlenzer elegant ins Tor vom polnischen Schlussmann ein, die Vorlage kam von einem Jungspund: Jay-Jay Okocha.

Mit diesem Ticket gibt's am 30. September 1992 Einlass.

Apropos Okocha: Völlig überraschend hatte Trainer Dragoslav Stepanovic den 19-Jährigen wenige Tage zuvor im Bundesligaspiel bei Werder Bremen in der Startelf aufgeboten. „Dieses Spiel gegen Lodz war der Startschuss einer großen Karriere. Er war ein außergewöhnliches Talent, ich habe ihm diese Entwicklung zugetraut und ihn daher aus der U23 hochgezogen. Schon gegen Bremen hat er überzeugt“, erzählt Stepi heute. Okochas Beine waren zuvor für 300.000 DM versichert worden. „Nach dem Spiel haben wir die Summe verdoppeln lassen.“

Was nach der frühen Führung folgte, war der berühmte Lauf. „Wir haben uns in einen Rausch gespielt. Die Jungs hatten Freude am Spiel, sind über die gesamte Spieldauer vorne drauf gegangen, haben gepresst und wollten Tore schießen“, berichtet Stepi. Er habe immer für Offensivfußball gestanden, habe extra in der Vorbereitung gegen unterklassige Gegner gespielt, damit seine Akteure Freude am Spiel und Toreschießen haben.

An diesem Tag zahlte es sich aus. Okocha und der nach einer halben Stunde eingewechselte (weil zuvor vier Wochen angeschlagene) Uwe Bein wirbelten im Mittelfeld, Bein sorgte in der Schlussminute sogar noch für den Endstand. Zwischenzeitlich trafen die Stürmer nach Belieben. Axel Kruse legte nach dem Führungstreffer noch das 2:0 und 6:0 nach, dem späteren Bundesliga-Torschützenkönig und heutigen Markenbotschafter Tony Yeboah gelang nach seinem lupenreinen Hattrick vor der Pause Tor Nummer vier zum 7:0. Treffer Nummer acht steuerte Joker Uwe Rahn in seinem ersten Pflichtspieleinsatz für die Eintracht bei.

1992 beim 9:0 Trainer und in einem anderen Rekordspiel der Eintracht Torschütze: Dragoslav Stepanovic.

„Die Aufgabe muss man erst mal so lösen, das ist schließlich keine Straßenmannschaft. Wir haben in den ersten 20 Minuten überragend gespielt“, resümierte Axel Kruse nach dem Schlusspfiff. Der damalige Vizepräsident Bernd Hölzenbein fand ähnliche, jedoch noch emotionalere Worte: „Ein 9:0 hätte ich nicht in den kühnsten Träumen erwartet. Das ist die größte sportliche Sensation meines Lebens.“

30 Jahre zuvor und 30 Jahre danach sollte die Eintracht nicht mehr so hoch im Profifußball gewinnen, auch nicht auf nationaler Ebene. In der Bundesliga erzielten die Adlerträger im Oktober 1974 unter Dietrich Weise zwar auch schon mal neun Tore – aber Rot-Weiß Essen traf einmal, die Partie endete 9:1. Im DFB-Pokal datiert der Rekordsieg aus dem Oktober 1976, als Hertha Zehlendorf mit 10:2 besiegt wurde. In beiden Spielen bildeten Grabowski, Nickel und Hölzenbein das überragende Offensivtrio. Und wer schoss gegen Zehlendorf das 9:2? Dragoslav Stepanovic!