15.04.2022
Europapokal

Mehr als ein Traum

Oliver Glasner in Taucherpose, Filip Kostic wie einst Juninho, ein Waldstadion in Katalonien und die internationale Presse in Höchstform. Der Coup in Barcelona in der Nachbetrachtung.

Einordnung: Mit Herz und Verstand

Wer beobachtete, mit welcher Energie und Einsatzbereitschaft die Frankfurter Jungs zwischen Freudentaumel und Interviewmarathon einer nach dem anderen auf den tausendfachen weißen Pulk zustürmte und vom Hüpfen und Tanzen gar nicht mehr loszukommen schien, konnte nicht unbedingt den Eindruck gewinnen, dass die Adlerträger mit Nachspielzeit gerade 105 Minuten Europapokal gegen eine der formstärksten Mannschaften Europas in den Knochen hatten.

Martin Hinteregger im Vollsprint, Kevin Trapp oben ohne und Oliver Glasner in bester Diving-Manier durchs einträchtige Spalier – an Abwechslung mangelte es auch spätabends im Camp Nou mitnichten. Der kreative Epilog stand dem sportlichen Hauptakt somit in kaum etwas nach.

Eintracht extrem: Ousmane Dembélé sieht sich von fünf Gegenspielern umzingelt.

Dass sich dieser für Eintracht Frankfurt nicht auf Hin- und Rückspiel reduzieren lässt, machte im Nachgang Axel Hellmann deutlich, indem er ein Phänomen erklärte, für das den Allermeisten die Worte fehlten. „Das baut sich über die Geschichten auf, die wir im Vorfeld erzählen. Über die Größe des Moments geht diese Begeisterung bei den Menschen sofort in Fleisch und Blut über. Da wird eine Energie freigesetzt, die sich dann in Reiseaktivitäten niederschlägt“, schlüsselte der Vorstandssprecher die Symbiose von Verein und Stadt, Spielern und Fans, Liebe und Leidensfähigkeit auf.

Gepaart mit einem vom Trainer- und Analystenteam um Glasner ausgetüftelten Masterplan, den der Chefcoach aber nicht zu hoch hängen wollte und lieber die Umsetzung seiner Schützlinge in den Mittelpunkt rückte. Würde immer alles zu 100 Prozent aufgehen, „würden wir jedes Spiel gewinnen“, so der 47-Jährige sinngemäß.

Zahl des Spiels: 25.000

Was bekanntlich in der ersten Saison unter der Leitung des Österreichers nicht immer der Fall war. „Hätte mir nach dem Pokalaus gegen Mannheim jemand gesagt, wir gewinnen ein halbes Jahr später in Barcelona, hätte ich ihn für verrückt erklärt.“ Was sich seitdem in der täglichen Trainingsarbeit getan hat, bekamen am Donnerstagabend nicht nur die rund 25.000 Eintracht-Fans im größten Fußballstadion der Welt, sondern im Schnitt auch 5,6 Millionen Fernsehzuschauer auf RTL zu Gesicht, was einem Marktanteil von 22 Prozent entsprach. In der Spitze schalteten sogar 7,53 Millionen zu!

Zusammenhalt auf allen Ebenen, und nicht zuletzt auf dem Rasen. Erst wenige Tage vor dem ersten Vergleich mit Barca hatte Glasner im Podcast „Eintracht vom Main“ sein Erfolgsideal veranschaulicht: „Wenn einer nicht mitgeht, ist es, als würde ich eine Karte aus einem Kartenhaus ziehen. Dann fällt es zusammen. Aber das ist das schönste Teambuilding. Jeder weiß, er ist nie alleine auf dem Platz, wenn alle mitmachen. Dann ist es auch möglich, gegen Barcelona zu bestehen...“ Nun ist klar, diese Vorstellung war „mes que un sueno“, mehr als ein Traum.

Geschichten des Spiels: Zu viele

Diese Erfüllung an Einzelnen festzumachen, fällt gerade Teamplayer Glasner naturgemäß am allerschwersten. Ob Hinteregger, der Pierre-Emerick Aubameyang über 180 Minuten mehr oder weniger um jeden Preis an die Kette legte, die Verteidigerkollegen Tuta und Evan Ndicka, die mit 22 Jahren auftraten als hätten sie 22 Titel gesammelt, Almamy Toure, der in seinem ersten europäischen Startelfeinsatz seit Oktober seinen Mann stand, Rafael Borré, der sich mit seinem ersten Treffer seit Anfang März belohnte... Und da war noch nicht die Rede von langjährigen Leistungsgaranten wie Sebastian Rode, Kevin Trapp und Filip Kostic.

Ein genauerer Blick auf die Ausbeute des Serben lohnt in diesem Fall aber allemal. Nicht nur, dass sich der stürmische Linksaußen, wenn nötig, diszipliniert neben Ndicka als astreiner Linksverteidiger positionierte und an allen drei Treffern direkt beteiligt war. Der Spielort brachte es mit sich, dass die Nummer zehn schaffte, was letztmals Juninho 2009 für Olympique Lyon gelang: Im Camp Nou sowohl als Torschütze als auch Vorlagengeber in Erscheinung zu treten. Ob’s mit einer Art Heimvorteil zu tun hatte, ließ der Matchwinner zumindest vermuten: „Mit diesen Fans hatten wir gefühlt ein Heimspiel.“ Auch Trapp zeigte sich hinterher auf der Pressekonferenz baff: „Ich kam zum Warmmachen raus und dachte, ich wäre in Frankfurt...“ Kein Scherz.

Das schreiben die Medien

Auf keinen Fall zu Schmankerln aufgelegt sind derweil die spanischen Zeitungen, traditionell bekannt für ihren martialischen Sprachgebrauch. In diesem Fall zum Leidwesen Barcas und Glück für die Gäste aus Hessen. Mundo Deportivo sah „das Stadion vom Gegner übernommen“, AS beobachtete, wie „aus Barças Stadion das Waldstadion wurde“. „Das soll keine Entschuldigung sein, aber es ist verständlich, dass die Blaugrana von der ersten Minute an fassungslos waren, als Gäste zu Hause zu spielen. Das gab es noch nie“, nahm’s die Sport historisch. Und die italienischen Kollegen der Gazzetta dello Sport stellten fest: „Die Niederlage von Barça begann schon am Kartenschalter.“

Ausblick: Der nationale Kampf um Europa

Das Ticket für das Halbfinale hat Eintracht Frankfurt in jedem Fall gelöst. Bevor der nächste geschichtsträchtige Kracher gegen West Ham United ansteht, warten an den nächsten zwei Bundesligaspieltagen zwei direkte Duelle um die Europapokalränge. Gegen die TSG Hoffenheim und schon am Sonntag auswärts bei Union Berlin. Im Grunde bleibt zur Vorbereitung einzig der Samstag. Ehe die Eurofighter am Freitnachmittag ins Herzen von Europa zurückkehren, beginnt die Regeneration am Strand von Barcelona. Lockerer Strandlauf, knackige Schwimmrunde. Einfach ein Realität gewordener Traum.