22.10.2019
UEFA Europa League

Royales Roulette

Im vergangenen Jahrzehnt standen bei Standard de Liège 13 Trainer an der Seitenlinie, Michel Preud’homme wirkt zum dritten Mal. Auch sonst wankt der Verein zwischen Möglichkeiten und Melancholie.

Situation

Gewissermaßen gleicht der Royal Standard Club de Liège der berühmten zweiten Geige. Schon während der Anfänge des belgischen Fußballs kürte sich Stadtnachbar Royal Football Club de Liège zum ersten Landesmeister. Das war 1896, erst zwei Jahre darauf riefen überhaupt Lütticher Schüler das fast gleich klingende Standard ins Leben. Zwölf Dekaden später spielt das Gründungsmitglied des Belgischen Fußballverbandes in der dritten Liga, während die Gäste in der ewigen Tabelle der Jupiler Pro League auf Platz drei liegen.Es gehören keine großen Rechenkünste dazu, dass sich Lüttich vornehmlich in der Spitzengruppe des belgischen Oberhauses aufhält – regelmäßige Teilnahmen am internationalen Geschäft inbegriffen. Allein, die Vormachtstellung blieb weitgehend dem 34-maligen Rekordmeister RSC Anderlecht oder in den vergangenen Jahren dem FC Brügge vorbehalten, auch wenn sich Lüttich mit zehn Titeln gewiss nicht verstecken muss. Einerseits. Andererseits liegt die letzte Meisterschaft schon zehn Jahre zurück, immerhin fand 2018 der achte Coupe de Belgique den Weg an die Maas.Seitdem führte den unter Ricardo Sá Pinto eingeläuteten Aufschwung Michel Preud’homme fort – wieder einmal. Die Torwartlegende hatte Lüttich 2008 zum ersten Titel seit 25 Jahren geführt. Der Einzug ins Finale des Landespokals der Pokalsieger 1982 gilt bis heute als größter Erfolg auf europäischem Parkett.

Formkurve

Auch wenn Preud’homme als Spieler dieser Triumph 1988 vergönnt blieb, hängen die Trauben in Wallonien gewiss tiefer. Als Vorjahresdritter auf direktem Wege für die Europa League qualifiziert, nehmen die Rot-Weißen nun schon den fünften Anlauf in Folge, die Gruppenphase zu überstehen. Auch wenn der jüngste Versuch denkbar unglücklich scheiterte, als trotz zehn Zählern das vorzeitige Aus stand. Das ist in der Geschichte dieses Wettbewerbs insgesamt erst acht Vereinen passiert. Nach dem wenig überzeugenden Auftaktsieg gegen den Vitória SC, als Standard bei 5:17 Torschüssen 2:0 gewann, folgte das deutliche 0:4 beim Arsenal FC. In London brachte Lüttich bei lediglich 38 Prozent Ballbesitz nur einen Schuss aufs Tor.Wesentlich rosiger sieht es derzeit auf nationaler Ebene aus, wo der Tabellenzweite seit fünf Spielen nicht verloren hat. Wettbewerbsübergreifend setzte es überhaupt seit der 0:1-Pleite in Anderlecht am 1. September einzig die Klatsche gegen die Gunners. Somit deckt sich sowohl in der Jupiler Pro League, als auch in der Vorrunde die eingangs verwendete Symbolik für den doppelten Zweiten: Einer ist immer besser.

Trainer

Als Eintracht Frankfurt im vergangenen April die Klingen mit SL Benfica gekreuzt hatte, Michel Preud’hommes Sympathien werden höchst wahrscheinlich den Portugiesen gegolten haben. Bei den Águias wurde er 1994 Welttorhüter, holte er den 1996 nationalen Pokal, hängte 1998 seine Handschuhe an den Nagel und vollzog 1999 den fließenden Übergang zum Technischen Direktor – Ende und Anfang zweier Weltkarrieren.Mit Standard Liège und später dem KV Mechelen hat der heute 60-Jährige national und international, im Kollektiv wie individuell alles gewonnen, was es zu gewinnen gab, doch freilich soll heute der Fokus auf dem Trainer Preud’homme liegen. Wobei kein Eintrachtler an den ersten Aufeinandertreffen im Viertelfinale des Europapokals der Pokalsieger 1989 vorbeikommt. Seinerzeit trafen die Hessen auf den Überraschungstitelverteidiger KV Mechelen, der angehende Belgische Meister hielt zwei Mal seine Weste weiß und die Belgier setzten sich mit 0:0 und 1:0 durch. Doch genug vom 30-jährigen Sieg.Die erste von drei Rückkehren Preud’hommes zu seinem Lütticher Heimatverein erfolgte zur Jahrtausendwende, ehe er 2002 wie bereits in Lissabon die Position des Technischen Direktors bekleidete. 2006 die Rolle rückwärts vom Bürosessel auf die Trainerbank, 2008 bescherte der Nationalheld Lüttich den ersten Meistertitel seit einem Vierteljahrhundert. Aufgrund Unstimmigkeiten über die künftige Vertragslänge verabschiedete sich das Urgestein zu Ligakonkurrent Gent, mit dem er 2010 ebenso den Pokal holte wie 2015 mit dem FC Brügge sowie im Jahr darauf in den Niederlanden mit Twente Enschede.Doch der Abstecher ins Nachbarland war nichts im Vergleich zum darauf folgenden Auslandsabenteuer in Saudi-Arabien. Mit Al-Shabab Riad gelang 2012 prompt die Meisterschaft, 2016 dasselbe Kunststück mit dem FC Brügge, das zuvor elf Jahre auf höchste Weihen hatte warten müssen. Nicht länger ausharren musste 2018 Herzensklub Standard, wo Preud’homme mittlerweile Übungsleiter, Vorstandsmitglied, Vizepräsident und – natürlich – Technischer Direktor in Personalunion ist. Ein Titel blieb mit dem Trophäenhamster zwar seitdem aus, doch bereits die Spitzenposition Anno ’08 gelang bekanntlich erst im zweiten Jahr…

Taktiktafel

Eine Tatsache, die gerade auf der am wenigsten von Rotation geprägten Position des Torhüters Bestand hat. Es sei denn, ein Verein tanzt auf mehreren Hochzeiten. So gilt seit dem Abgang von Mexikos Nationaltorwart Guillermo Ochoa zwar Arnaud Bodart, Neffe von Gilbert Bodart, der gleichermaßen für Standard und Belgien zwischen den Pfosten stand, die Nummer eins. In der Europa League durfte hingegen Vanja Milinkovic-Savic das Tor bewachen. Bei eingefleischten Adlerträgern werden jetzt die Ohren klingeln: Richtig, hierbei handelt es sich um den Bruder von Sergej Milinkovic-Savic, der in der Vorsaison mit S.S. Lazio zwei Mal der Eintracht unterlag.Davor bilden in aller Regel Konstantinos Laifis, der Vielspieler des Teams, und das heimgekehrte Eigengewächs Zinho Vanheusden die Innenverteidigung, während Gojko Cimirot und Samuel Bastien zumeist die Doppelsechs formen. In vorderster Front wissen die Belgier seit zwei Jahren mit Renaud Emond einen zuverlässigen Knipser in ihren Reihen, der seit der Amtsübernahme Preud’hommes Stammspieler und Toptorschütze und in dieser Spielzeit sogar Kapitän ist. 2017/18 gelangen 15 Pflichtspieltore, 2018/19 derer 16. Allein in dieser Saison fielen sämtliche sechs Treffer innerhalb des Strafraums, davon drei per Kopf. 2018 ballerte er sein Team letztlich mit sechs Buden zum Pokalsieg und avancierte nebenbei zum Torschützenkönig. Ein wenig royaler Glanz im Lütticher Trainerroulette.

Spieler im Fokus: Zinho Vanheusden

Schon als der belgische Hoffnungsträger 1999 in Hasselt, der Hauptstadt der Provinz Limburg, das Licht der Welt erblickte, trafen dessen Eltern eine Entscheidung, die etwas von einer selbsterfüllenden Prophezeiung hatte. Angetan vom brasilianischen Weltmeister Zinho benannten sie den Filho nach dem ehemaligen Mittelfeldakteur. Zwar sollte sich der heute 1,87 Meter messende Vanheusden zum Innenverteidiger entwickeln, der sich mit seinen technischen Fertigkeiten und einer Passquote von 87 Prozent aber nicht verstecken muss. Gleichzeitig verfügt er über eine ungemeine Antizipationsgabe und fing in der vergangenen Saison in 26 Spielen 53 gegnerische Pässe ab, die zweitmeisten seines Teams. Seine Zweikampfquote von 64 Prozent ist ohnehin über jeden Zweifel erhaben.Das sahen die Verantwortlichen des FC Internazionale Milano ähnlich, als sie den seinerzeit 16-Jährigen im Sommer 2015 in die Lombardei lotsten. Ein Jahr später stieß Vanheusden als Kapitän mit der Juniorennationalmannschaft bei der U17-EM bis ins Viertelfinale vor, wo aber gegen Deutschland nach einem 0:1 Endstation war. In den Reihen der Bundesadler standen etwa Kai Havertz, der erst vorigen Freitag in der Commerzbank-Arena gastierte, oder als Siegtorschütze der ehemalige Frankfurter Renat Dadashov.Vom Aus unbehelligt schien der Aufstieg Vanheusdens vorgezeichnet. Während andere Teenager Ende September 2017 der neuesten Version der Fußballsimulationsreihe FIFA entgegenfieberten, war der damals 18-Jährige drauf und dran, selbst auf dem realen Rasen in eine wichtige Rolle hineinzuwachsen, stand schon sechs Mal im Profiaufgebot Inters. Doch dann riss beim Einsatz in der UEFA Youth League das Kreuzband und damit auch der Kontakt zum Lizenzspielerkader ab.Um Rhythmus und Selbstvertrauen zurückzuerlangen, ließ sich Vanheusden im darauffolgenden Winter zu seinem Ausbildungsverein ausleihen, letztlich für eineinhalb Jahre, ehe Standard Liège seinen verlorenen und längst wiedergewonnenen Sohn für eine kolportierte ligaweite Rekordablöse fest verpflichtete. Zwar geriet der mittlerweile U21-Nationalspieler im Sommer wegen der nächsten Knieoperation erneut aus dem Tritt, zählt aber seit dem Comeback am ersten Vorrundenspieltag gegen den Vitória SC und spätestens mit dem Startelfeinsatz am 22. September zum unumstrittenen Stammpersonal: Das Märchen gegen Eupen im Zeitraffer: Heimspiel, gleich Captain, weiße Weste, 3:0.Kaum verwunderlich, dass auch A-Nationaltrainer Roberto Martínez auf den kämpferischen Führungsspieler aufmerksam geworden ist. Und auch die Serie A muss kein geplatzter Wunschtraum bleiben. Inter besitzt bis 2021 ein Rückkaufsrecht.