Situation
Denn hinter den Blues liegt zwei Spieltage vor dem Ende der Premier League eine – die einen würden sagen: abwechslungsreiche, die anderen: unberechenbare – Saison. Sicher hatten sich die Verantwortlichen aus der Symbiose aus individueller Klasse und italienischer Taktikkunde mehr erhofft, als kurz vor Schluss noch um die Qualifikation für die Champions League kämpfen zu müssen – in die vielleicht nur die ersten Drei der Tabelle über die Liga einziehen. Für den Klub aus dem Londoner Nobelviertel ist das Selbstverständnis eigentlich Europas Elite, was er aber nach zwei internationalen Titeln in Folge (2012 die UEFA Champions, 2013 die Europa League) nur noch punktuell mit Taten untermauern konnte. Nichtsdestotrotz vermochte es der sechsfache Englische Meister zuletzt, sich fast jährlich von einer Trophäe zur nächsten zu hangeln. So erweiterte sich der Briefkopf um die Meisterschaften 2015 und 2017 sowie den League Cup 2015 und den FA Cup 2018. Da Antonio Conte aber in seinem zweiten Amtsjahr die Abzweigung zur Königsklasse verpasste, half ihm selbst Silberware nicht mehr gegen den Blues an der Fulham Road.
Trainer
Es folgte mit Maurizio Sarri der nächste Landsmann. Bereits 2006 war Sarri auf seinen Landsmann gefolgt, das war beim AC Arezzo. Dass sich die Umstände seitdem verändert haben, musste der leidenschaftliche Tabakliebhaber am eigenen Leib erfahren. Während in Italien die Zigarette am Spielfeldrand erlaubt bis geduldet ist, herrscht in Englands Stadien striktes Rauchverbot. Auch stößt Sarris Spielweise und Mannschaftsführung noch nicht auf uneingeschränkte Gegenliebe. Was den geborenen Widerstandsbekämpfer aber nicht anficht. Der gelernte Banker blickt nämlich alles andere als auf eine Bilderbuchkarriere zurück. Schon als Spieler brachte es Sarri nicht über den Amateurbereich hinaus, seiner Faszination für das runde Leder tat dies gleichwohl keinen Abbruch. Im Gegenteil.
So kompromisslos er als Innenverteidiger agierte, trieb er neben seiner Hauptbeschäftigung bei einem italienischen Kreditinstitut sein Hobby auf höchstem Niveau voran, indem er sich in den sportlichen Niederungen des Stiefels verdingte. Er schreibt damit die Geschichte eines Aufsteigers im wahrsten Sinne des Wortes, die vor 19 Jahren ihren Wendepunkt erfährt, als Sarri seinen Job bei der „Banca Monte di Paschi“, der ältesten noch bestehenden Bank der Welt, aufgibt und sich komplett dem Trainerhandwerk verschreibt. Die Entscheidung kommt zeitweise einem Himmelfahrtskommando gleich. Bevor Sarri auf dem Chefsessel des Chelsea FC sitzt, begibt er sich noch mehr als einmal auf diverse Schleuderstühle des Calcio. 2014 folgt der Durchbruch, als er den FC Empoli nach sechs Jahren in die Serie A zurückführt und damit selbst im Alter von 55 Jahren das Tor zum italienischen Oberhaus durchschreitet. Nach dem Klassenerhalt in der Folgesaison wird der SSC Napoli auf Sarri aufmerksam. Einigen Unkenrufen, allen voran Diego Maradonas, zum Trotz behauptet sich Sarri auch beim italienischen Topklub, den er in seiner Debütsaison prompt auf den zweiten Platz führt. Nebenbei stellt der Avantgardist die Gesetze des Calcio auf den Kopf, lässt mit Vierer- statt Dreierkette und überhaupt den wohl attraktivsten Fußball spielen, den die Serie A in den vergangenen Jahren zu Gesicht bekommen hat. Nachdem Sarri mit Napoli 2017/18 trotz 91 Punkten die Meisterschaft verpasst hatte (Juventus ergattert vier Zähler mehr), folgte Sarri dem Lockruf des Chelsea FC.
Taktiktafel
Dort predigt er weiter einen Spielstil, dessen diverse Eigenarten wohl in den wenigsten Lehrbüchern zu finden sind. In Zeiten, in welchen sich Außenverteidiger bei Ballbesitz fast automatisch zu Flügelstürmern verwandeln, fordert der 60-jährige Emporkömmling während des eigenen Spielaufbaus eine Zwischenstufe ein. Denn im ersten Teil der forcierten Ballzirkulation, die am Zenit von Sarris dreijährigem Schaffen in Neapel europaweit Bewunderung erfuhr, soll sich die Viererabwehrreihe möglichst auf einer Höhe postieren und geduldig peu à peu im Verbund in die gegnerische Hälfte kombinieren. In der strikten 4-3-3-Anordnung kreieren die Blau-Weißen Überladungen über die Außen, wobei sich die beiden Achter so breit wie eben nötig anordnen und mit den offensiven und defensiven Außen Durchbrüche provozieren. Vorstöße erfolgen erst, wenn sich tatsächlich eine Lücke hinter den gegnerischen Linien auftut. Ist eine Bahn versperrt, verlagern die Gäste die Spielsituation blitzartig auf den gegenüberliegenden isolierten Außenstürmer, der dann meist genug Zeit und Raum zum Eins-gegen-eins-Dribbling vorfindet. Die eng stehenden Kurzpassgrüppchen ermöglichen es, bei Ballverlust effektiv ins Gegenpressing zu kommen und die Kugel rasch zurückzuerobern.
Formkurve
All das sind Abläufe, die naturgemäß nicht auf Knopfdruck funktionierten. Anfang Februar ließen die Londoner exemplarisch einem 0:4 gegen Bournemouth ein 5:0 gegen Huddersfield folgen, ehe es gegen Manchester City ein 0:6 setzte. Gegen die Citizens verlor Chelsea auch das Ligapokalfinale im Elfmeterschießen und scheiterte im FA-Cup-Achtelfinale an dessen Stadtrivale Manchester United (0:2). Erst mit der Zeit und zunehmendem Ergebnisdruck stellten sich wiederholt Siegesserien ein, die wiederum in den vergangenen drei Ligamatches ausblieb. Nur: Zeit ist im Fußball und speziell an der Stamford Bridge eine schwache Währung. Im Gegensatz zu Titeln. Und die führen in dieser Spielzeit für Chelsea kurzfristig einzig über den letzten verbliebenen Bundesligisten: Eintracht Frankfurt.
Spieler im Fokus: Antonio Rüdiger
Sein Profidebüt für den VfB Stuttgart feierte Antonio Rüdiger im Januar 2012. In jenem Jahr erhielt der damals 18-Jährige als bester A-Jugend-Spieler in Deutschland auch die Fritz-Walter-Medaille in Gold. Es folgte ein Wechselbad der Gefühle zwischen UEFA Europa League, Abstiegskampf und dem ersten von 30 A-Länderspielen im Mai 2014, ehe 2015 der Schritt zur AS Rom folgte.
Nach zwei Jahren und 72 Pflichtspielen für die Roma verabschiedete sich Rüdiger als frischgebackener Confed-Cup-Gewinner Richtung London. Im Erfolgssystem des damaligen Trainers Antonio Conte avancierte Rüdiger in Windeseile zur festen Säule und war aufgrund seiner athletischen und fußballerischen Eigenschaften prädestiniert für den äußeren Teil einer Dreierkette.
Doch auch in der Taktik des neuen Coaches mit zwei Innenverteidigern ist Rüdiger nicht wegzudenken und war 2018/19 in 44 Pflichtspielen im Einsatz. Am vergangenen Sonntag bei Manchester United (1:1) musste der 1,90-Meter-Hüne allerdings angeschlagen vom Platz, ein Einsatz im Hinspiel ist aktuell offen. Einsatz beweist „Toni“ auch abseits des Rasens und macht sich vermehrt gegen rassistische Entwicklungen stark. Ganz gleich, in welcher europäischen Hauptstadt der Kosmopolit gerade Stürmer in die Schranken weist, seine Wurzeln hat er nicht vergessen. Wie sich Titel anfühlen, mittlerweile auch nicht.