02.05.2020
Interview

„Solidargedanken in die Zukunft tragen“

Mentalcoach Jörg Zeyringer zeigt neben den Herausforderungen der Coronakrise auch Lösungen auf, gewährt Einblicke ins Gesundheitswesen und erklärt das Verhaltensmuster von Profisportlern.

Mag. Dr. Jörg Zeyringer ist Buchautor und seit 1993 als Trainer und Berater im Gesundheitswesen, in der Wirtschaft und im Profisport tätig. Er gilt als einer der renommiertesten Coaches Österreichs. Als Mentaltrainer betreut er Profitrainer und Profisportler, darunter auch Eintracht-Cheftrainer Adi Hütter, mit dem ihn nicht nur eine über 20-jährige Freundschaft, sondern auch zwei gemeinsame Bücher verbinden. Im Herbst 2019 erschien ihr neues Werk: „Teamgeist – Wie man ein Meisterteam entwickelt“.

Herr Zeyringer, Ende Februar war die Eintracht noch zu Gast in Ihrer Heimat Salzburg. Keine zwei Wochen später sollte nichts mehr sein, wie es war. Wie verfolgen Sie die Entwicklung der Coronakrise?
Am Anfang war die Situation wie wahrscheinlich für die meisten sehr eigenartig, weil das Thema über die Medien zunächst weit weg schien. Erst in Fernost, dann in Italien schon etwas näher. Anfang März habe ich erstmals gemerkt, wie real diese Geschichte werden könnte, als ich im Rahmen eines Workshops in Innsbruck im Seminarhotel Auskunft über meinen letzten Aufenthaltsort geben musste. Zurück zu Hause mussten alle Österreicher, die sich 14 Tage zuvor in Tirol aufgehalten hatten, in Quarantäne. Plötzlich wurden Hotels geschlossen, meine geplanten Seminare sind bis Ende Mai gestoppt. Ich hätte nie gedacht, dass äußere Umstände unser Leben derart beeinflussen könnten und so schnell alles anders wird.

Inwieweit standen Sie als langjähriger Freund und Mentaltrainer Adi Hütter zuletzt beratend zur Seite?
Wir stehen selbstverständlich im Austausch, aber den Schlüssel, aus den derzeitigen Möglichkeiten die Vorteile zu ziehen, hat Adi selbst gefunden. Er versteht es, die Situation anzunehmen und Ruhe zu bewahren – die Tür ist zu, die Fenster gehen auf. So nutzt Adi die Gelegenheit, mehr Einzelgespräche als in den Monaten zuvor führen zu können und die Spieler physisch voranzubringen. Der springende Punkt ist der, dass er weiß, worin seine Kompetenzen liegen. Er kann zwar nicht beeinflussen, ob die Saison weitergeht oder nicht, aber er kann dafür sorgen, dass sich seine Spieler dann körperlich und mental im bestmöglichen Zustand befinden.

Vor welchen psychologischen Herausforderungen stehen demnach Profi- und speziell Mannschaftssportler?
Das hängt erstmal von der jeweiligen Persönlichkeitsstruktur und den damit verbundenen Strategien im Umgang mit der Situation ab. Diese reichen von Verharmlosen – „so schlimm wird es schon nicht werden“ – über Verleugnung – „stimmt ja alles gar nicht“ – bis hin zu Verdrängung, also Fakten beziehungsweise Gedanken daran einfach wegzuschieben. Die konkrete Herausforderung besteht darin, Eigeninitiative zu entwickeln, sich neu zu organisieren und der Situation angepasste Ziele zu setzen. Wenn jemand über Wochen alleine ist und nicht raus darf, kann das beengend und bedrückend wirken. Technische Möglichkeiten dienen zwar als Ventil, aber sobald der Laptop zu ist, machen sich die eingeschränkten Möglichkeiten umso stärker bemerkbar. Ehrlich gesagt kann auch keiner vorhersehen, was psychologisch auf uns zukommt, die Auswirkungen auf Kinder und Jugendliche betreffend. Das erfahren wir erst, wenn die Praxen öffnen und Erhebungen möglich sind. Klar ist aber, dass gerade Profisportler ein gewisses Selbstbild erschaffen haben, stark zu sein und Situationen im Griff zu haben, welches aktuell schwerer aufrechtzuerhalten ist.

„Ganz wichtige Signale“

Adi selbst vermutet, dass im Falle der Saisonfortsetzung aufgrund der ausgebliebenen mannschaftstaktischen Einheiten individuelle Qualitäten zunächst noch wichtiger werden.
Damit könnte er sicher recht behalten. Nichtsdestotrotz glaube ich, dass in den ersten Wochen die Mannschaften die Nase vorn haben werden, die am besten im Kollektiv funktionieren. Das meine ich weniger taktisch und fußballerisch, sondern auf den Teamgedanken bezogen.

Ihr gleichlautendes Buch handelt von „Teamgeist“. Zeigt sich jetzt, wer wirklich teamfähig ist?
Ich beobachte gerade im deutschen Fußball ganz wichtige Signale, sei es vom Ligaverband, den Vereinen oder den Medienanstalten. Zur Kooperation gibt es keine Alternative. In dieser Krise kommen Helden zum Vorschein: Pflegekräfte, Medizinerinnen, Wissenschaftler und andere mehr. Wenn man aber deren Verdienstmöglichkeiten sieht, fehlt dem die Verhältnismäßigkeit. Ich hoffe, dass den aktuellen Worten Taten folgen und wir nach Corona den Solidargedanken in die Zukunft tragen. Das kann auch von Fußballern ausgehen. Der freiwillige Gehaltsverzicht ist ein positives Zeichen. Auch wenn ich höre, dass sich etwa Stefan Ilsanker über die „AUF JETZT“-Kampagne hinaus für Kinderhilfswerke engagieren will, erfüllt mich das mit Zuversicht.

Welche mentalen Besonderheiten bringt die Pandemie generell mit sich?
Wir befinden uns sicher in einer einschneidenden Phase, weil in unserem perfekt organisierten Alltag mit all seinen Gewohnheiten plötzlich Schwachstellen auftreten. Um diese Tragweite zu begreifen, müssen wir uns die Funktionsweisen unseres Gehirns bewusst machen.

Die wären?
Nehmen wir den Antrieb eines Profisportlers, der es überwiegend gewohnt war, hart zu trainieren, zu spielen und auf diese Weise sein Belohnungssystem aktiviert. Doch auf einmal fehlt der Standard of excellence, das Ziel, auf das ich im Training hinarbeite. Natürlich reagiert darauf jeder Mensch individuell, aber die ausbleibenden Leistungsnachweise können zu Schwierigkeiten führen. Gute Trainingseindrücke sind schön, ersetzen aber kein gutes Spiel. Im Gesundheitssektor ist genau das Gegenteil zu beobachten. Weil viele medizinische Bereiche Schwerstarbeit leisten, stoßen die Menschen an ihre Grenzen. Zusätzlich kommt das Bedrohungssystem ins Spiel. Die Weltwirtschaftskrise einmal ausgenommen ist eine solch globale Krise eine für alle neue Erfahrung. Die Bedrohung kommt aus mehreren Richtungen und betrifft verschiedene Lebensbereiche: Die Gefahr, sich selbst, aber auch andere anzustecken, Sorge um die Familie, Wegfall der Reisefreiheit, Unsicherheit im Job. Auch auf der sozialen Ebene, dem Bindungssystem, kommt es zu Störungen: Viele sind nicht mehr von Freunden und Familien umgeben. Digitale Kommunikationsmittel schaffen zwar Abhilfe, sind aber nicht mit dem persönlichen Kontakt vergleichbar. Hier sind alle mental sehr gefordert, mit diesen Defiziten umzugehen, Spannung zu erzeugen und neue Ziele zu kreieren.

„Unser Gehirn überlisten“

Wie bewerten Sie den Zwiespalt von gesundheitlicher Verantwortung und wirtschaftlicher Vernunft?
Dafür müssen wir die jeweiligen Folgen der gesetzlichen Maßnahmen auf der einen und von Corona auf der anderen Seite betrachten. Wir benötigen eine starke Wirtschaft, um unseren hohen Lebensstandard aufrechtzuerhalten. Auf der anderen Seite verliert dieser an Wert, wenn wir krank sind. Ich bin der Auffassung, dass gesundheitliche Interessen vor wirtschaftlichen stehen. Nach Krisen hat die Wirtschaft gute Chancen, sich zu erholen, auch wenn das einige Zeit dauert, aber am Virus verstorbene Menschen bringt nichts zurück.

Trotzdem gibt es für diesen Ausnahmezustand keine wirkliche Blaupause.
Ich habe erst kürzlich ein Buch über die Pest in Europa gelesen. Interessanterweise decken sich viele Maßnahmen von vor 700, 800 Jahren mit den heutigen: Märkte wurden abgesagt, Städte abgesperrt und Tore verriegelt. Mit dem entscheidenden Unterschied, dass wir heute nicht mehr höhere Mächte dafür verantwortlich machen, sondern einen wissenschaftlichen Zugang zum Virus gefunden haben.

Haben sich für Sie persönlich die Beratungsschwerpunkte verändert?
Tatsächlich berate ich via Skype zurzeit vor allem CEOs und Geschäftsführer zum Umgang mit der aktuellen Situation. Zur Bewältigung von Krisen gibt es klare Regeln, auch wenn die Art neuartig ist. Die wichtigste ist, Ruhe zu bewahren, um handlungsfähig zu bleiben. Dies ist deshalb so entscheidend, weil sich Emotion und Kognition in unserem Gehirn wie ein Paternoster-System verhalten – steigt das eine, sinkt das andere. Sind wir zu emotional, fällt es schwer, vernünftige Entscheidungen zu treffen. Die Kunst ist es, alte Gewohnheiten hinter sich zu lassen und unser Gehirn, eigentlich ein sehr bequemes Organ, zu überlisten. Da bilden Profisportler keine Ausnahme, die sich normalerweise in einer starken Fokussierung – einer Art Tunnel – befinden, nun aber neue Mittel der Selbstwirksamkeit entwickeln müssen.

Was können Sie uns über die Situation in Österreich berichten?
Die Regierung hat Mitte März sehr schnell und gut reagiert. Kommunikationstechnisch war wichtig, dass niemand die Problematik kleingeredet hat, sondern zu drastischen Maßnahmen gegriffen wurde. Vielen schien das übertrieben, was aber dem Versuch geschuldet war, Betroffenheit zu erzeugen, ohne dabei Angst zu schüren. Denn Angst lähmt, führt zu Rückzugsverhalten und verhindert kreative Lösungen. Es wird ein kommunikativer Balanceakt bleiben, sich für die Situation zu sensibilisieren und nicht gleichzeitig den Teufel an die Wand zu malen. Die Schwierigkeit ist, dass wir nur wenige Informationen besitzen beziehungsweise gewonnene Erkenntnisse sich auch als falsch herausstellen können. In diesem Fall ist es wichtig, sich dies dann auch einzugestehen.