05.03.2025
Europapokal

„Sportbegeisterung ist enorm“

Co-Trainer Jan Fießer berichtet von seinen Erfahrungswerten in den Niederlanden, beschreibt den Fußball dort, dessen Nachwuchsphilosophie und gibt einen Vorgeschmack auf Amsterdam.

Jan, Glückwunsch zum Fußballlehrer! Welcher Aspekt des einjährigen Lehrgangs hat dich am meisten weitergebracht?
Danke! Der Kurs bezog sich nicht hauptsächlich auf Fußballinhalte, sondern vielmehr darum, ein Bewusstsein für Führung und Leadership zu entwickeln.

Da kam der Praxistest gegen Budapest wie gerufen.
Das stimmt, zumal die Ausbildung auch vorsah, ein Spiel im Männerbereich als Cheftrainer zu leiten. Das hatte ich aber bereits zuvor im Rahmen des Rhein-Main-Cups erfüllt, als wir mit einer gemischten U21-U19-Auswahl gegen Offenbach gespielt haben. Hätten wir gewusst, wie es in der Europa League kommt, hätten wir vielleicht auch das in Erwägung gezogen.

Was war deine erste Reaktion beim Los AFC Ajax?
Schön, wieder nach Holland zu kommen, wo ich wunderbare Jahre hatte. Daher war das auch mein Wunschlos. Es werden einige Freunde kommen, die wir in dieser Zeit kennengelernt haben, ich durfte schon die eine oder andere Ticketanfrage weitergeben. Darauf freue ich mich.

Jan Fießer arbeitete von Juli 2020 bis September 2022 als Co-Trainer unter Thomas Letsch (links) für Vitesse Arnheim, anschließend schlossen sie sich dem VfL Bochum an.

Als Co-Trainer von Vitesse Arnheim hast du sechs Mal gegen Ajax gespielt, einem Unentschieden stehen fünf Niederlagen gegenüber. Was macht es gegen Amsterdam so schwer?
In einem Satz: Ajax Amsterdam ist das Bayern München der Niederlande. Als ich mit ihnen die ersten Berührungspunkte hatte, würde ich beide Vereine sogar auf Augenhöhe sehen, was die Qualität der Spieler damals angeht. Tadic, Haller, Anthony, Alvarez, Gravenberch, Mazraoui, Timber, Blind, Martinez, Onana und ten Hag als Trainer sind in den vergangenen Jahren alle nicht grundlos zu Topklubs in Europa gewechselt. Um ehrlich zu sein, hatten wir in keinem Spiel nur den Hauch einer Chance. Was unabhängig des Leistungslevels des Teams eine Herausforderung für die Auswärtsmannschaft darstellt, ist das Stadion: große Arena, lautstarke Fans, gerade europäische Nächte werden nochmal anders zelebriert. International gibt es normalerweise ein weißes Fahnenmeer, das habe ich selbst nicht miterlebt. Uns erwartet eine richtig gute Stimmung. Wir können uns auf eine schwere Aufgabe gefasst machen. Es ist für keinen einfach, in Amsterdam zu gewinnen.

Bei Ajax kommt einem sofort der Totale Fußball in den Sinn. Wie nah ist die heutige Generation an diesem Idealzustand dran?
Grundsätzlich hat das nicht ausschließlich etwas mit Amsterdam zu tun, sondern mit der niederländischen Fußballkultur. Um nur ein Beispiel zu nennen: Ich war einmal als Zuschauer im Stadion. Ajax hat 2:0 geführt, ein gutes Spiel gemacht, aber in der zweiten Halbzeit die Kontrolle abgegeben. Der Unmut der Besucher war sofort zu spüren und zu hören: „Voetballen!“ haben viele gerufen, was etwa einer Aufforderung gleichkommt „Fußball zu spielen“. Sie waren unzufrieden, weil sie zu wenig den Ball hatten. Das steht nicht nur bei Ajax Amsterdam über allem, sondern die ganze Kultur in den Niederlanden ist vom Voetbal total geprägt. Natürlich ist Ajax der Vorreiter.

Von Johan Cruyff stammt die Definition: „Der einfache Fußball ist der schönste. Aber einfacher Fußball ist zugleich auch am schwersten.“ Was steckt dahinter?
Im Groben geht es darum, dass es am schwierigsten ist, mit zwei Kontakten Fußball zu spielen. Damit die Spieler nicht denken, sie müssen immer etwas Besonderes, sondern das vermeintlich Einfache machen: Erster Kontakt, Abspiel. Alle kennen die Weisheit: Weniger ist manchmal mehr.

Die Menschen honorieren es, wenn einer ins Eins-gegen-eins geht, einen Gegenspieler tunnelt, Spielzüge gelingen, tolle Tore entstehen.

Jan Fießer über die Erwartungshaltung in den Niederlanden

Was macht den Totaalvoetbal für viele Trainer so attraktiv?
Man darf das nicht auf ein bestimmtes Ideal herunterbrechen. Insgesamt geht es hier nicht um den Cruyff- oder Ajax-Fußball, sondern um das moderne Spiel und die Tatsache: Der Ball ist schneller als jeder Spieler. Es geht darum, viele Akteure im Zentrum zu haben, um den Gegner dort zu binden und dann außen ins Eins-gegen-eins zu kommen. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass solche Topspieler eben die Gamechanger sind. Eine Qualität, die sich nur die großen Klubs leisten können.

Darum folgen dann nicht alle diesem Stil?
Unter anderem. Aber auch, weil die Zeiten, als es nur dieses oder jene Stilmittel gab, längst vorbei sind. Jede Mannschaft muss alle Phasen beherrschen, um erfolgreich zu sein: einfaches Spiel, saubere Pässe und bei Ballverlust sind die Wege kurz und die Spieler frisch, um ins Gegenpressing zu sprinten. Selbst ein Pep Guardiola war mit seinen Teams so erfolgreich, weil sie auch gegen den Ball stark waren. Ähnlich ist es aktuell bei Arne Slot in Liverpool und vorher in Rotterdam. Die Tore sieht jeder, aber nicht alle, was davor geschah. Natürlich verschieben sich die Schwerpunkte abhängig der individuellen Stärke. Bei Topteams, die mehr den Ball haben, geht es noch mehr ums Gegenpressing. Der Rest regelt es über das kollektive Defensivverhalten.

Bei Ajax steht erstmals ein Italiener an der Seitenlinie. Welchen Einfluss hat Francesco Farioli auf das Spiel?
Die Ergebnisse sprechen für sich, ebenso aber, dass Ajax prinzipiell nicht vom 4-3-3 abweicht. So wie ich es in den vergangenen Jahren mitbekommen habe, ist es fast unmöglich, Trainer bei Ajax Amsterdam zu sein und ein anderes System zu spielen.

Ajax hat in der Liga wesentlich weniger Tore erzielt als Eindhoven, aber mit Abstand die wenigsten zugelassen.
Was für mich heraussticht, ist, dass sie nach dem großen Umbruch vor zweieinhalb Jahren, als sie im Grunde die komplette Stammelf verloren haben, und einem Hänger seitdem aktuell so deutlich vor Eindhoven stehen. PSV wiederum hat eine richtig starke Mannschaft. Das spricht umgekehrt für die aktuelle Stärke von Ajax.

Derzeit stehen 13 Eigengewächse im Kader. Was kannst du über die Ajax-Schule berichten?
Zum einen gehört das zur Philosophie, zum anderen haben Ajax und PSV so gut wie alle Toptalente des Landes. Das sind die zwei besten Nachwuchsschulen in den Niederlanden. Hinzu kommt ein großer Vorteil in der Eredivisie aus Sicht von Ajax, PSV und Feyenoord: Diese drei Topteams gewinnen in der Liga den Großteil ihrer Spiele, weil das Leistungsgefälle wesentlich größer ist als etwa in der Bundesliga. Das bedeutet, sie können viel häufiger junge und eher unerfahrene Spieler einsetzen ohne Gefahr zu laufen, zu verlieren. Bei uns stehen derzeit Bayern und Leverkusen über dem Rest, dahinter kann jeder jeden schlagen, wenn ein Team nicht am Maximum agiert. Dass der Erste beim Letzten verliert, passiert in den Niederlanden extrem selten.

Was macht die niederländische Nachwuchsarbeit generell aus?
Ein Trugschluss wäre, alles auf die Trainingsinhalte zu reduzieren. Der größte Unterschied ist die Kultur. Die Menschen haben einen ganz anderen Anspruch an Fußball. Als ich Nachwuchstrainer in Deutschland war, ging es immer viel ums Kollektiv, hart zu arbeiten, Intensität und Leidenschaft zu haben. Alles Attribute, die natürlich wichtige Grundlagen, aber nicht das sind, was die Zuschauer in den Niederlanden erwarten. Wenn dort jemand mit einer Grätsche den Ball erobert, wird nicht automatisch applaudiert. Die Menschen honorieren es, wenn einer ins Eins-gegen-eins geht, einen Gegenspieler tunnelt, Spielzüge gelingen, tolle Tore entstehen. Deshalb haben sie viel mehr Zocker. Die Erwartungshaltung der Menschen ist eine andere: schöner Fußball, Fotbal Total, wenn man so will. Hinzu kommt, dass das System ein völlig anderes ist.

Also du meinst nicht das Spielsystem?
Ab einem gewissen Level im Sport – ich sage bewusst Sport und nicht Fußball – müssen die Athleten maximal 60 Prozent ihrer Zeit in der Schule verbringen. Die Talente machen trotzdem normal ihren Abschluss, erhalten individuelle Förderung, Nachhilfe. Das ist alles vom Staat geregelt. Ein normaler Tagesablauf sieht vor, dass die Spieler morgens trainieren, dann in die Schule gehen und nachmittags eine zweite Einheit oder frei haben. Sie haben in jungen Jahren einfach mehr Training. Seit meiner Zeit in Arnheim weiß ich, warum die Niederlande, obwohl sie kein großes Land sind, in so vielen Sportarten Titel und Medaillen holen. Fast jede Stadt hat einen Sportpark, in dem Fußball, Hockey und Tennis vereint sind. Wir reden hier nicht von Leistungs-, sondern von Breitensport. Am Wochenende, wenn die Spiele sind, sind hier oftmals um die 2000 Menschen anzutreffen. Mir kam es so vor: Wenn jemand keinen Sport betreibt, ist er kein Niederländer (lacht). Die Sportbegeisterung ist enorm. Der gesellschaftliche Stellenwert ist viel höher: Die Kids haben Wettkämpfe und die Eltern zusammen einen guten Tag. Sensationell!

Mit Blick auf Donnerstag: Was erwartet euch in der Amsterdam-Arena?
Ich möchte den Vergleich nicht überstrapazieren, aber was Stadion, Rasen, Trophäen und Siegergen angeht, kommt es dem der Bayern schon nah. Denn wenn Amsterdam führt und der Gegner am Boden ist, werden sie in der Regel richtig heiß. Das habe ich mit Vitesse selbst mehrfach erlebt. Als unterlegene Mannschaft geht’s häufig erst richtig rund. Das ist kein Zufall. Über einen ehemaligen Ajax-Spieler habe ich eine Trainingsform kennengelernt, die gerade diese Killermentalität fördert. So weit wollen und werden wir es nicht kommen lassen.