19.04.2019
UEFA Europa League

Von wegen letztes Abendmahl

An Gründonnerstag feiert Frankfurt eine vorgezogene Auferstehung. Dank einer irdischen Spielidee und übernatürlicher Unterstützung.

Der entscheidende Unterschied zur Bibelgeschichte: Cheftrainer Adi Hütter konnte sich am späten Donnerstagabend der unumstößlichen Treue seiner zwölf Jünger, pardon: Männer, sicher sein. Denn neben der Startelf verwandelte sich zudem die dauerbrodelnde Commerzbank-Arena in den fleischgewordenen zwölften Mann. Eine Überzahlsituation, die SL Benfica im Hinspiel über 70 Minuten im Nachhinein nicht konsequent genug ausnutzen konnte. Trotzdem schien der 4:2-Vorsprung komfortabel, zumal der mit 81 Toren treffsicherste Verein und Spitzenreiter der portugiesischen Liga sportliche Sturmwarnungen im frühsommerlichen Stadtwald mitzubringen schien. Im Nachhinein waren die Hausherren darauf eindeutig besser eingestellt als die Gäste von der Atlantikküste auf das donnerhallende Stimmungsgewitter rund um das satte Grün. Sollte Insider Haris Seferovic seine neuen Kollegen mit Blick auf den zu erwartenden Ausnahmezustand im Frankfurter Tollhaus alarmiert haben, die Alarmglocken blieben während den 90 Minuten nur Schall und Rauch, das Nervenflattern des jüngsten Viertelfinalisten der UEFA Europa League war unübersehbar.

Drahtseilakt ohne Netz

Genau wie das wie verwandelte Gesicht der (Stein-)Adlerträger, die bei allen notwendigen Emotionen nicht nur mit Herz, sondern auch Hirn auftraten, wie Kapitän David Abraham im Anschluss betonte: „Es war wichtig, bei allen Emotionen nicht blind nach vorne zu spielen. Wir wussten, dass wir 90 Minuten Zeit haben.“ Dagegen hatte Martin Hinteregger kurz vor dem Anpfiff den Kampf gegen die Zeit verloren, weshalb Simon Falette erstmals seit dem 26. Januar im Bundesligaspiel beim SV Werder Bremen auf dem Feld stand – bereits an der Weser war der Linksfuß an der Seite von Makoto Hasebe und Abraham aufgelaufen. Hatten damals noch teilweise kraterartige Löcher zwischen den Mannschaftsteilen geklafft, bewegte sich über drei Monate später ein wahrlich homogenes Bollwerk über alle Ebenen des Feldes, presste mal tiefer, häufiger höher, doch immer im Verbund. Nur die Besucher blieben – bis weit nach Spielschluss – auf ihrem Fleck. Was auch für Cheftrainer Adi Hütter elementar war: „Wichtig war die taktische Disziplin.“ Welche die Frankfurter Profis individualtaktisch mit einer gesunden Grundaggressivität anreicherten. Nach kaum zehn Minuten bekam Joao Félix, das Schreckgespenst aus dem Hinspiel, vom 16 Jahre älteren Makoto Hasebe auf robuste, aber nicht unfaire Weise zu spüren, was auf die Portugiesen, die in den vorangegangenen zwölf internationalen Auswärtsspielen nie ohne Gegentor geblieben waren und auf deutschem Grund vier Mal am Stück verloren hatten, zukommen würde. Der Auftritt des Wunderknaben blieb bis auf ein feines Solo kurz nach der Pause entgegen seines Namenursprungs: unglücklich. Kevin Trapp, selten gefragt, aber wie alle Feldspieler in den Schlüsselszenen auf der Hut, wusste: „Wir haben an der Grenze zum Erlaubten gearbeitet, aber selten darüber hinaus. Ohne das geht es nicht.“

Die kompromisslose Kompaktheit, die den Edeltechnikern aus der Hafenstadt in der ersten Halbzeit nicht einen Schuss auf das Tor von Kevin Trapp gestattete, war umso bemerkenswerter, als die Hessen in den vorangegangenen drei Pflichtspielen acht Gegentore zugelassen hatten. Doch als es darauf ankam, den Drahtseilakt zwischen Sturmlauf und Abwehrschlacht zu meistern, hatten die Schleusen wieder geschlossen. Oder um es mit den Worten des Captains zu sagen: „Wir wussten, dass wir jederzeit für ein Tor gut sind.“ So wie zehn Minuten vor der Pause, als der nimmermüde Ante Rebic vier Gegenspieler auf sich zog, dem für Goncalo Paciencia gestarteten Mijat Gacinovic den Pfostenschuss ermöglichte, in dessen Konsequenz Filip Kostic zum 1:0 abstaubte, als er seinen früheren Kollegen vom VfB Stuttgart Odysseas Vlachodimos überwand. Dass der Dosenöffner knapp aus der verbotenen Zone fiel – vielleicht ein vorweggenommenes Ostergeschenk, für dessen Suche die Hausherren aber auch physisch, taktisch und fußballerisch alles investiert hatten.

Die Definition von Perfektion

Sinnbildlich dafür stand auch Sebastian Rode, der seinen omnipräsenten Auftritt Mitte der zweiten Halbzeit mit dem Tor zum Halbfinale krönte, dem ersten Europapokaltreffer überhaupt für die Winterleihgabe, die in der diesmal durchgängig bewährten 3-5-2-Anordnung als Antriebsfeder auf der Acht nicht zu halten war.

Als die Batterie beim Dauerbrenner kurz vor Schluss bis aufs letzte Ampere entladen war, versetzte die folgerichtige Einwechslung des wiedergenesenen Lucas Torró das Endorphinchaos auf den Rängen endgültig in Ekstase, zumal wenige Sekunden später noch der Pfosten für die SGE rettete. Es war bezeichnend für diese magischste aller Nächte: Der Eintracht springt der Ball vom Aluminium in die verbotene Zone und führt zur Führung, den Südländern vom Außenpfosten ins Toraus. Der epischen Abwehrschlacht bis zum Schlusspfiff um kurz vor 23 Uhr war es auch geschuldet, dass letztlich eine Passquote von 66 Prozent zu Buche stand, genau wie vier Tage zuvor gegen den FC Augsburg – Perfektion, wie von Coach Hütter eingefordert und bravourös umgesetzt, kann folglich viele Facetten haben.

Zeitenwende

Dass erstmals seit Wochen beziehungsweise Monaten die rekonvaleszenten Marco Russ und Timothy Chandler wieder im Kader standen, zählt zu den vielen weiteren unendlichen Nebenhandlungssträngen dieser Eintracht, die vor drei Jahren mit eineinhalb Beinen in der zweiten Liga stand – frag nach bei Russ und Gacinovic auf der einen oder Seferovic auf der anderen Seite – und nun erstmals seit 39 Jahren in ein Europapokalhalbfinale einzog! Gewissermaßen wie der Adler aus der Asche oder wie Vorstandsmitglied Axel Hellmann befand: „Vielleicht müssen wir uns langsam daran gewöhnen, dass wir Endspiele können.“

Gleichzeitig hält der Traditionsverein als letzter international verbliebener Bundesligist weiter die deutsche Flagge hoch. Als nächstes gegen keinen Geringeren als Chelsea FC, der, so kurios das klingen mag, der erste Gegner in der K.o.-Runde ist, der nicht aus der UEFA Champions League abgestiegen war, aber nichtsdestotrotz zweifelsohne die höchste Hürde der Saison darstellt. Bevor es aber „London Calling“ heißt, wartet am Montag die nächste schwere und nicht weniger wichtige Aufgabe beim VfL Wolfsburg, wo die Adlerträger wieder als die bekannten Jäger, die immer öfter die Gejagten sind, auftreten möchten und an den Osterfeiertagen die eifrige Punktesuche fortsetzen möchten.