In den vorangegangenen neunzig Minuten waren sie Zeugen eines der hochklassigsten Fußballspiele geworden, sie hatten zwei offensive Mannschaften und insgesamt zehn tolle Tore gesehen. Natürlich galten die Ovationen dem neuen, alten und bis dato einzigen Europapokalsieger, denn seit Einführung des Europapokals 1955 hatten die Königlichen von Real Madrid die Trophäe jedes Jahr gewonnen. Aber auch die Eintracht wurde vom Publikum stürmisch gefeiert:
Die Mannschaft hatte sich mit ihrem mutigen Fußball einmal mehr in die Herzen der Schotten gespielt, sie war sogar überraschend in Führung gegangen und hatte Real alles abverlangt. Als der Unparteiische zu Beginn der zweiten Halbzeit einen höchst umstrittenen Elfmeter gegen die Eintracht pfiff, da gab es von den Spielern keine Proteste und kein Gejammer. Und vielleicht war es auch die kleine spontane Geste der Eintrachtspieler nach der Siegerehrung, die den bis heute so glänzenden Ruf der Eintracht auf der Insel maßgeblich beeinflusst hat: Als Gento, di Stefano, Puskas, Santamaria, de Sol und all die anderen des „weißen Balletts“ mit dem Europapokal in die Kabine liefen, da stellten sich die Eintrachtspieler vor dem Abgang zu den Katakomben im Spalier auf und applaudiertem dem siegreichen Gegner.
So ganz freiwillig, das bestätigte Erwin Stein vor einigen Wochen im Museum, machten sie das freilich nicht: Der unvergessene Trainer Paul Oßwald war es, der die geschlagene Truppe nach Schlusspfiff zusammentrommelte und den Befehl zum Klatschen gab.
Auch wenn der ganz große Coup nicht gelang, die Europapokalsaison 1959/60 war einer der größten Erfolge unserer Eintracht. Als Deutscher Meister 1959 für den noch jungen Wettbewerb qualifiziert, erreichte die Mannschaft nach Siegen über Young Boys Bern und den Wiener SK als erstes deutsches Team das Halbfinale. Hier traf man auf die Profitruppe der Glasgow Rangers. Fußballprofis – das gab es 1960 in Deutschland noch nicht. Natürlich verdienten die Kicker bei der Eintracht auch damals schon Geld, aber jeder hatte außerhalb des Fußballplatzes einen ordentlichen Beruf.
Und so trafen die sehr selbstbewusst auftretenden Schotten in Frankfurt auf verschiedene Branchen: Zwei Kaufmännische Angestellte, ein Maschinenschlosser, ein Bankkaufmann, ein Postbeamter, ein Schreiner, ein Drogist, ein Blechschlosser, ein Gastwirt, ein Beamtenanwärter und ein Werkzeugmacher trumpften am Abend des 13. April auf dem Fußballfeld so groß auf, dass langjährige Anhänger bis heute vom besten Spiel der Eintracht sprechen. Zur Halbzeit stand es vor 77.000 Zuschauern nach Treffern von Dieter Stinka und Caldow 1:1, im zweiten Durchgang spielte sich die Eintracht in einen Rausch. Alfred Pfaff (2), Dieter Lindner (2) und Erwin Stein sorgten für einen 6:1 Kantersieg, die Frankfurter Rundschau bilanzierte am nächsten Tag „Kein Superlativ reicht aus“. Mit diesem Vorsprung war das Europapokalfinale schon fast erreicht. Doch die Eintracht setzte noch einen drauf. Auch beim Rückspiel in Glasgow drei Wochen später gab es ein Torefestival: Im Glasgower Ibrox Park trafen Lindner, Pfaff (2), Kreß und Meier (2), diesmal siegte die Eintracht mit 6:3.
Die Fans der Rangers waren von den „germans“ hellauf begeistert, die Eintracht musste nach Abpfiff vor über 70.000 Besuchern eine Ehrenrunde laufen. Da auch das Endspiel gegen Real in Glasgow stattfinden sollte, hatte man die neutralen Fans schon mal hinter sich gebracht. Und als die Eintrachtspieler in die Kabine liefen, erlebten sie etwas, was sie aus Deutschland nicht kannten: Die unterlegene Mannschaft der Rangers hatte sich vor dem Spielertunnel im Spalier aufgestellt und applaudierte dem siegreichen Frankfurter Team.
Derweil überschlug sich die europäische Presse mit Superlativen über die Eintracht, in Deutschland herrschte der Tenor, dass der Erfolg von Pfaff & Co. der größte Erfolg seit dem Weltmeistertitel von 1954 sei. Und dann dieses Finale gegen die Königlichen aus Madrid: In der ersten Minute trifft Meier nur die Latte, drei Minuten später scheitert Kreß aus spitzem Winkel. Die Eintracht machte Druck und kam zu weiteren guten Chancen durch Stein und Meier. In der 18. Minute dann das zu diesem Zeitpunkt verdiente 1:0 für den Außenseiter durch Kreß. Sollte tatsächlich eine weitere Sensation möglich sein? Aber dann drehte das „weiße Ballett“ auf. Noch vor der Pause brachten di Stefano (2) und Puskas Real mit 3:1 in Führung. Und als die Eintracht nach dem Seitenwechsel auf den Anschluss drängte, pfiff Schiedsrichter Mowat einen zweifelhaften Elfmeter für Real. Puskas erhöhte auf 4:1 und einmal in Fahrt ließ er in den folgenden Minuten zwei weitere Treffer folgen. Erwin Stein konnte noch einmal auf 2:6 verkürzen, ehe di Stefano mit seinem dritten Treffer das muntere Toreschießen von Real-Seite beendete.
Der Schlusspunkt in der atemberaubenden Partie gehörte wiederum der Eintracht. Erneut war es Erwin Stein, der in der 75. Minute den dritten Frankfurter Treffer erzielte. Zwar konnte auch die Eintracht den Siegeszug von Real Madrid nicht stoppen, aber die Mannschaft hatte sich tapfer gewehrt und den Madrilenen alles abverlangt. Das erkannte auch Trainer Paul Oßwald, der seine Mannen nach dem Schlusspfiff in der Kabine aufmunterte und das Lied „So ein Tag, so wunderschön wie heute“ anstimmte. Nach jedem Sieg im Europapokal hatten die Spieler das Lied unter der Dusche angestimmt, nun wurde es auch nach der Niederlage gesungen. Danach musste die Mannschaft noch einmal auf den Platz: Im weiten Rund des Hampden Park verweilten immer noch Zehntausende, die die beiden Teams feierten.
Wir alle wissen, Niederlagen sind nie schön, aber im Rückblick ist das 3:7 von Glasgow vielleicht die schönste Niederlage unserer Eintracht. Der faire Auftritt im Hampden Park, der offensive Fußball über neunzig Minuten und nicht zuletzt die anerkennende Geste gegenüber dem Sieger, als die Eintrachtspieler dem Gegner nach „britischer Manier“ applaudierten, brachten der Eintracht höchste Anerkennung. In der Europapokalgeschichte jedenfalls hat das Team vom 18. Mai 1960 einen festen Platz gefunden – und das ganz ohne Pokal:
Egon Loy, Friedel Lutz, Hermann Höfer (+1996), Hansi Weilbächer, Hans-Walter Eigenbrodt (+1997), Dieter Stinka, Richard Kreß (+1996), Dieter Lindner, Erwin Stein, Alfred Pfaff (+2008), Erich Meier (+2010), Trainer Paul Oßwald (+1993).