Sommer 1958. Ein „fast klinischer Fall von Nervenschwäche“, so schreibt „Der neue Sport“ am Tag danach. Die Eintracht hatte 0:1 in Regensburg verloren, hatte nach langer Zeit mit Tabellenführung am letzten Spieltag gar Rang zwei in der Oberliga Süd abgeben müssen, der noch zur Teilnahme an der Endrunde um die Deutsche Meisterschaft berechtigt. Hermann Höfer, damals Spieler, der während seiner aktiven Zeit ein Sportlertagebuch führt, schrieb: „Diese Mannschaft durfte sich, als sie nach Frankfurt zurückkam, nicht öffentlich zeigen. Insbesondere unser Spielführer Alfred Pfaff nicht, weil er einen Elfmeter verschossen hatte. […] Diese sechs Stunden Heimfahrt aus Regensburg werden wir nie vergessen. […]
Diese Stunden der Niedergeschlagenheit war die Geburt einer Mannschaft, die im nächsten Jahr einen unvergleichlichen Siegeszug bis zur Deutschen Meisterschaft antreten sollte.“ 14 Monate später, 28. Juni 1959: Es ist vollbracht. Die Eintracht wird in Berlin nach einem 5:3 nach Verlängerung gegen Kickers Offenbach Deutscher Meister. 60 lange Jahre ist dies nun schon her – und es ist bis dato die einzige Deutsche Meisterschaft für die Eintracht geblieben, aus heutiger Sicht exakt zur Halbzeit des Bestehens.
„… und plötzlich, in der letzten Minute des letzten Spiels der Saison, war Thomas durch, ganz allein, mit der Chance, die Meisterschaft für Arsenal zu holen. ‚Jetzt haben sie’s in der Hand‘, schrie Bryan Moore; und selbst dann merkte ich, dass ich mich zügelte – ich hatte ja gerade erst gelernt, wie wichtig verhärtete Skepsis war -, und dachte, na gut, wenigstens waren wir am Ende nah dran, statt zu denken, bitte Michael, bitte Michael, bitte hau ihn rein, bitte Gott, lass ihn treffen. Und dann schlug er einen Salto, und ich lag flach auf dem Boden, und jeder im Wohnzimmer sprang auf mich drauf. 18 Jahre, in einer Sekunde weggeblasen.“
Titelsammlung geht weiter
Die Sätze stammen vom britischen Bestseller Nick Hornby, der Mitte der 1990er-Jahre mit seinem autobiografischen Roman „Fever Pitch“ die Gefühlswelt eines Fußballfans vortrefflich beschrieben hat. Das Kapitel, in dem von der ersten nationalen Meisterschaft seines Lieblingsklubs Arsenal seit 18 Jahren die Rede ist, heißt denn auch „Der größte Augenblick aller Zeiten“.
18 Jahre? Für Fans und Anhänger der Frankfurter Eintracht ein kurzer Wimpernschlag, bedenkt man, dass die Riederwälder mittlerweile 60 Jahre auf ihren größten Augenblick warten. Immerhin wurde im vergangenen Jahr eine halb so lange Wartezeit beendet, 30 Jahre nach dem DFB-Pokalsieg 1988 gelang der Eintracht 2018 der fünfte Triumph in diesem Wettbewerb. Hier hat sich eine Klammer geschlossen – ähnlich wie 1959. Denn in beiden Fällen waren bittere Niederlagen großer Ansporn für eine neue Zielsetzung.
Große Titel für die Eintracht gab es nach 1959 noch sechs weitere – vier DFB-Pokalsiege in den 1970ern und 1980ern, zwischenzeitlich der UEFA-Cup-Sieg 1980 und schließlich der DFB-Pokalsieg im vergangenen Jahr. Generationen von Eintrachtlern ist eine Deutsche Meisterschaft bisher nicht vergönnt. Was 1959, im Jahr des 60. Bestehens der Eintracht, als größter Erfolg und Ansporn für neue Taten gesehen wurde, hat sich nicht mehr wiederholt. Neue Taten hat die Eintracht vollbracht. Sie sorgte schon ein Jahr nach dem Triumph von Berlin für ein neues, diesmal sogar ein internationales Highlight. Als erste deutsche Mannschaft erreichte die Eintracht das Endspiel um den Europapokal und unterlag erst dem Serienmeister Real Madrid in einer Jahrhundertpartie mit 3:7.
Salatschüssel außer Reichweite
Aber was sind die genannten Titelgewinne im Gegensatz zur Deutschen Meisterschaft? Im Durchschnitt 15.000 Fans empfingen die Pokalsiegermannschaften in den 1970ern und 1980ern, der UEFA-Cup-Sieger 1980 wurde sogar nur von 10.000 Fans gefeiert. Im vergangenen Jahr säumten über 100.000 Menschen die Straßen und den Römerberg. All diese Zahlen zusammengenommen reichen noch nicht für die Menschenmenge, die 1959 „ihre“ Eintracht begrüßte. Es waren zwischen 200.000 und 300.000 Frankfurter.
Die silberne Ehrenschale des Deutschen Fußball-Bundes scheint eine ganz besondere Anziehungskraft zu haben. Die Sehnsucht nach ihr ist sicherlich auch in Frankfurt da, auch wenn es in der heutigen Zeit sicherlich einem Wunder à la Leicester City gleichen würde. Einige Male war die Eintracht ganz nah dran. In den 1970er Jahren, als hier in Frankfurt der schönste Fußball gespielt wurde, als die Weltmeister Grabi und Holz sowie Hammer-Nickel im Waldstadion zauberten, dass es nur so krachte. In den frühen 1990er Jahren, als Bein, Yeboah und selbsternannte Frankfurter Buben den Fußball 2000 zelebrierten. Bis dieser berühmte Tag in Rostock kam.
Zum Greifen bekam die Salatschüssel kein Frankfurter mehr. Jahrelang vertrösteten sich Fans und Funktionäre auf die kommende Saison – und die Helden von 1959 schauten staunend zu. Sie, die mit dem Titelgewinn den Weg ebnen wollten für eine goldene Vereinszukunft, mussten mit ansehen, wie sie selbst immer mehr zu Legenden wurden, weil keine der folgenden Generationen das Gleiche vollbrachte. Auch wenn Dieter Lindner einst gerne scherzhaft sagte, man sei den nachfolgenden Spielergenerationen dankbar, dass sie die Erfolge der „59er“ nicht durch eigene, größere Siege schmälern. Glücklich mit der Schalenflaute sind die Helden von einst sicherlich nicht, und Lindner hätte sich sicherlich auch nicht vorstellen können, dass ein weiterer Ausspruch von ihm auch im Jahr 2019 noch Bestand hat. „Wenn wir jetzt kein Deutscher Meister werden, dann werden wir es nie“, sagte er am 13. Juni 1959, als sich die Mannschaft gerade für das große Endspiel qualifiziert hatte. Wer Hermann Höfer am 17. Mai 1992 nach dem Rostock-Trauma fassungslos vor Enttäuschung am Frankfurter Römer gesehen hat, erkennt, wie sehr der einstige linke Verteidiger seinen Nachfolgern diesen Titel gegönnt hätte. Die Schale kam nicht nach Frankfurt, die Spieler waren enttäuscht, die Fans traumatisiert – und die 59er litten mit.
Zeitzeugen vor der Kamera
Das Interesse an den Helden von damals ist aber auch deswegen weiterhin ungebrochen. Für die Berichterstattung zum 60-jährigen Jubiläum hat die Redaktion gemeinsam mit Museumsdirektor Matthias Thoma quasi einen kleinen Media Day einberufen. Zeitzeugen-Interviews anlässlich der 120-Jahr-Feier des Vereins, einen Beitrag für EintrachtTV, Interviews für die Printpublikationen des Vereins, Fotos – all dies wurde eingetütet mit Egon Loy, Friedel Lutz, Dieter Stinka und Istvan Sztani, die größtenteils mit Gattinnen zu Kaffee und Kuchen ins Museum gekommen waren. Man merkte sofort, dass sie die 59er hier in der Arena wohlfühlen. Kein Wunder, haben sie doch noch ihre eigene Loge, sind also Stammgäste bei den Spielen der Eintracht – aber auch bei Veranstaltungen im Museum.
Auch 60 Jahre danach erzählen Loy, Lutz, Stinka und Sztani noch gerne über die alten Zeiten. Über Trainer Paul Osswald, der noch im Vorjahr Kickers Offenbach trainierte. Über die Verpflichtung von Helmut Abraham, einem Handballtorwart, der Stammtorhüter Egon Loy zu Saisonbeginn ersetzte. Über die furiose Saison, in der die Eintracht ab Oktober keine Niederlage mehr kassieren sollte und in der Endrunde ausnahmslos Siege einfährt (26:11 Tore in sechs Spielen). Über das Endrunden-Spiel gegen Köln, als sich Pfaff und Horvat früh verletzten und sich bis zum Schlusspfiff über den Platz schleppten, weil noch nicht gewechselt werden durfte. Über Gehälter im unteren dreistelligen DM-Bereich. Über Spieler, die später zum Training kamen, weil sie erst ihrem Hauptjob nachgehen mussten. Über Rudolf Gramlich, den Vorsitzenden, der seinerzeit die ersten VIP-Räume Deutschlands einrichtet und vor der Geschäftsstelle für sein Auto eine eigene Zapfsäule erhält. Über Gegneranalysen, die sich seinerzeit auf Zeitungen und guten Kontakten zu Journalisten beschränkten. Anekdoten gibt es viele, es war eben eine andere Zeit. Eine fußballerisch sehr schöne für die Eintracht, denn am 28. Juni 1959 folgt die Krönung einer herausragenden Saison.
Im Finale um die Deutsche Meisterschaft bekam es die Eintracht wieder mit Kickers Offenbach zu tun, die sich in der Parallelgruppe der Endrunde durchgesetzt hatte. Bereits fünf Tage zuvor geht’s für die Mannschaft nach Berlin, und die Vorbereitung verläuft für heutige Maßstäbe teilweise außergewöhnlich. Rudern und der Besuch einer Schokoladenfabrik stehen auf dem Plan, trainiert wird aber natürlich auch. Mit Istvan Sztani, der allerdings zwischendurch über Nacht verschwindet und wohl seinen bevorstehenden Wechsel vorantreibt. Am Spieltag werden einige Zuschauer von strengen Grenzbeamten zurückgehalten, rund 5000 Fans kommen jeweils aus Offenbach und Frankfurt. 76.000 Menschen kommen am Ende ins Olympiastadion und hoffen, dass der Sieger am Abend feststeht. Denn die Regularien sehen bei Gleichstand nach 120 Minuten vor, dass zwei Tage später erneut gespielt wird.
Unentschieden steht es auch nach 22 Minuten, obwohl schon vier Tore gefallen sind. Sztani (1.) und Eckehard Feigenspan (12.) haben die Eintracht zweimal in Führung geschossen, Kraus (8.) und Preisendörfer (22.) jeweils ausgeglichen. Trotz Chancen auf beiden Seiten passiert bis zum Ablauf der 90 Minuten auf beiden Seiten nichts mehr, was den Spielstand auf der Anzeigetafel ändert. Dafür geht die Verlängerung furios los. Die Eintracht erhält nach einem Foul von Lichtl an Kress Elfmeter, den Feigenspan zum 3:2 verwandelt (91.). Noch viele Jahre später sorgt dieser Pfiff für Diskussionen allerorts, er scheint aber gerechtfertigt. Sztani (107.) markiert das 4:2, die Kickers kommen aber durch Gast (109.) nochmal ran. Feigenspan mit seinem dritten Treffer (117.) sorgt jedoch für die Entscheidung. Tor! Schluss! Aus! Meister!
Im Stadion spielen sich Jubelszenen ab, zahlreiche Fans stürmen den Rasen. Auf der Ehrentribüne strahlen Präsident Gramlich und Schatzmeister Hohmann um die Wette. Karl Hohmann freut sich schon auf die zusätzlichen Einnahmen aus dem Europapokal, für den sich die Eintracht in diesem Moment erstmals qualifiziert hat. Später sind die Spieler zum Empfang des Deutschen Fußball-Bundes im Haus der Berliner Kaufleute geladen, ehe in der Nacht in der Unterkunft am kleinen Wannsee noch die Sektkorken knallen. Am nächsten Tag geht’s zurück nach Frankfurt, zunächst in die Bundessportschule am Stadion. Hier hatte sich die Mannschaft in den Wochen der Endrunde vorbereitet, an jenem Sonntag ist die Kaffeetafel reich gedeckt. Mit dem Sonderzug fahren Pfaff, Kress und Co. wenig später zum Hauptbahnhof und werden dort von Tausenden Fans empfangen, ehe sechsspännige Brauereifahrzeuge die Mannschaft zum Römer bringen. Aus den Fenstern wird Konfetti geworfen, von Dächern werden Leuchtraketen abgeschossen, einfallsreiche Frankfurter schlagen Topfdeckel gegeneinander, Flugzeuge mit Glückwunsch-Transparenten kreisen über der Innenstadt. Hansi Weilbächer erinnert sich vor zehn Jahren: „Als wir durch Frankfurt gefahren sind und diese vielen Leute gesehen haben, wurde uns die Bedeutung dieser Deutschen Meisterschaft eigentlich erst richtig bewusst. Wir dachten, dass 20.000 bis 30.000 Menschen uns empfangen“. Letztlich waren es in der Stadt zehnmal so viele. Der ein oder andere wird sich dabei noch an die bitteren Niederlagen zum Saisonende 1958 erinnert haben.