Klaus Gerster hat zum Interviewtermin ein ganz besonderes Heft mitgebracht. Auf über 50 Seiten hat er, der Trainer der U19-Meistermannschaft 1985, Tabellen, Zeitungsausschnitte und Bilder aus der Saison 1984/85 zusammengestellt, eingeleitet mit persönlichen Worten. „Hallo Jungs, dass ich diese Zeilen einmal schreiben werde, habe ich mir in meinen Träumen tausendmal ausgemalt; nun ist es soweit. […] Wie schrieb der Jugendkicker so schön: Ein Team, ein Wort: EINTRACHT. Ich glaube, treffender konnte man unser Team nicht beschreiben. Nur die, die den langen Weg von Anfang an mitgegangen sind, wissen, wie viele Enttäuschungen und Rückschläge weggesteckt werden mussten, um unser großes Ziel zu erreichen, aber gerade die Niederlagen und Rückschläge haben uns den Willen und die Kraft gegeben, solch eine Leistung zu vollbringen.“
Zunächst zu den Fakten. Am 12. Juli 1985 krönt Eintrachts U19 eine grandiose Saison beim 4:2 im Finale um die Deutsche Meisterschaft gegen den TSV Bayer 04 Leverkusen. 5.000 Zuschauer sehen in Mannheim, wie Thomas Reubolds Doppelpack (17./50.) die Adlerträger zunächst mit 2:0 nach vorne bringt, ehe Rehbein (58.) und Scholtysik (66.) ausgleichen. Andres Iglesias (70./FE) und Thorsten Dembrowski mit dem Schlusspfiff (80.) sorgen für kollektiven Frankfurter Jubel. Meistertrainer ist der später als Manager im Profifußball tätige Klaus Gerster (69); Stützen der Mannschaft sind unter anderem das erst 17-jährige „Supertalent“ (BILD) Andreas Möller, Top-Torjäger Reubold (27 Saisontreffer), der nur ein Jahr nach dem Titel bei einem Unfall verstorbene Kapitän und stürmende Verteidiger Milan Vucak (24 Tore) und der vorstoppende U-Nationalspieler Alex Conrad, der „bald Profi Armin Kraaz Konkurrenz machen wird“ (BILD).
Kader der Meistermannschaft 1985
Burkhard Rogowski, Thomas Ernst; Andres Iglesias, Klaus Reusing, Richard Walz, Alexander Conrad, Christian Hestermann, Achim Völker, Milan Vucak, Andreas Möller, Thomas Reubold, Björn Pistauer, Thorsten Dembowski, Oliver Gruner, Michael Lösch, Jürgen Bellersheim, Peter Feisel.
Trainer: Klaus Gerster.
Es ist die bis heute letzte A-Jugendmeisterschaft, die die Eintracht feiert – und der nächste Höhepunkt in einem aus Frankfurter Sicht außergewöhnlichen Jahrzehnt. 1982 und 1983 hatte die U19 bereits unter Klaus Mank triumphiert, 1987 verlor Gersters Mannschaft (unter anderem mit Uwe Bindewald, Thomas Lasser und Bruno Pasqualotto) erst im Endspiel, während die B-Junioren von 1980 bis 1982 dreimal im Finale stehen (Sieg 1980 unter Mank mit unter anderem Thomas Berthold und Uwe Müller).
Gerster und Mank kennen jeden
Das Erfolgsrezept damals: Trainer wie Klaus Gerster und Klaus Mank kennen jeden talentierten Jugendfußballer in Frankfurt und über die Stadtgrenzen hinaus, sind auf den Sportplätzen der Region zuhause, beobachten und überzeugen Spieler von der Eintracht – und formen daraus eine, wie der Jugendkicker richtig bemerkte, „EINTRACHT“. In der 1985er-Mannschaft sind beispielsweise eine Handvoll Spieler dabei, die Gerster schon Jahre zuvor beim BSC Schwarz-Weiß Frankfurt unter seinen Fittichen hatte. Dazu gehört neben Vucak und Conrad auch Andreas Möller. „Wir haben in der C-Jugend mit dem BSC alles geschlagen. Um weiter nach oben zu kommen, mussten wir wechseln. Wir sind mit sechs Spielern zur Eintracht, ich habe dort zunächst die B-Jugend übernommen“, erzählt Gerster, der dann mit dem Jahrgang weiter aufsteigt und 1985 das Meisterstück macht.
Wir hatten eine tolle Mannschaft mit richtig guten Kickern.
Thomas Ernst
Zweiter Torwart seinerzeit ist Thomas Ernst, der zum jüngeren Jahrgang gehört und später viele Jahre bei der Eintracht als Profi verbringt. „Ich habe selten gespielt, meine Sache dann gut gemacht; und es hat mich dann gewurmt, dass ich wieder raus musste. Aber wir hatten Erfolg, alles richtig gemacht“, sagt der 57-Jährige heute. „Wir hatten eine tolle Mannschaft mit richtig guten Kickern. Dazu mit Klaus einen Trainer, der ein harter Knochen war und von dem wir viel gelernt haben. Er hat gerne das Torwarttraining gemacht, er hatte einen super platzierten Schuss. Dazu hatte Klaus immer den Mut, sich für seine Talente einzusetzen. Daher habe ich ihm viel zu verdanken“, sagt Ernst, der, aus Wiesbaden angereist, oft von Gerster am Bahnhof abgeholt und an den Riederwald gefahren worden war.
Rückschläge bleiben nicht aus
Auf dem Weg zum Titel gibt es auch die angesprochenen Rückschläge. Seinerzeit muss man sich in Hessen zunächst in einer der zwei Landesliga-Gruppen behaupten, dann die Hessenmeisterschaft gegen den anderen Landesliga-Meister gewinnen, um schließlich mit 15 weiteren Landesverbandsmeistern in vier K.o.-Runden den Deutschen Meister zu ermitteln. 1983 scheitert Gersters Team als U17 in der Landesliga an Kickers Offenbach (Gerster: „Der OFC war in den 1970ern die Jugend-Nummer eins in Hessen, erst Klaus Mank hat das gedreht“), 1984 wird die U19 im Hessenfinale vom VfL Marburg gestoppt.
Drei Kuriositäten
- Möller spielt wohl mit Bänderriss: Wenige Tage vor dem Endspiel knickt Andreas Möller beim Spaziergang mit seinem Dackel um, Vereinsarzt Georg Degenhardt diagnostiziert einen Bänderriss. Nationalmannschaftsmasseur Adolf Katzenmayer legt vor dem Spiel einen Spezialverband an – und Möller ist wie in der gesamten Saison verlässlicher Leistungsträger. „Bester Mann im Finale ist aber nicht Andy, der schon mit 16 Jahren bei den Profis mittrainieren durfte, sondern Innenverteidiger Alex Conrad“, sagt Roland Palmert, damals wie heute für die BILD ganz nah dran.
- Eintracht spielt in Flamenco-Trikots: Leverkusens Offizieller Rainer Calmund schenkt der Eintracht am Tag vor dem Endspiel Trikots von Flamenco Rio de Janeiro. Prompt spielen die Adlerträger in diesen Shirts das Finale. Adlerträger, ohne den Adler getragen zu haben …
- Kein Meister wird Profi: 30 Siege in 31 Meisterschaftsspielen – aber keiner wird in der kommenden Saison Profi. Cheftrainer Dietrich Weise sieht die Spieler, die der Jugend entwachsen, erstmal bei den Amateuren besser aufgehoben. Die größte Karriere legt freilich Andreas Möller hin (unter anderem Welt-, Europa- und Deutscher Meister), bei Alex Conrad (24 Bundesligaspiele) verhindern Verletzungen mehr. Auf die zweitmeisten Einsätze im Oberhaus nach Möller (430) kommt der damalige Ersatztorwart Thomas „Gustl“ Ernst (106), der als Nummer eins im Jahr darauf mit der Eintracht das Halbfinale erreicht (Aus gegen Leverkusen).
1984/1985 ist die Landesliga Süd (120:14 Tore, 44:0 Punkte und damit auch zwei Siege gegen Offenbach) und die Hessenmeisterschaft (4:0 und 3:2 gegen CSC Kassel) für die eingespielte Mannschaft nur ein Einrollen, ebenso wie das Achtel- und Viertelfinale gegen Hamburg-Meister TSV Reinbek (3:1/5:2) und Berlin-Champion Reinickendorfer Füchse (7:2/8:0). Alex Conrad, der in dieser Saison als einziger U19-Spieler schon bei den Profis reingeschnuppert und zwei Jahre zuvor bereits zur U19-Meistermannschaft gehört hatte, sagt heute: „Wir hatten bis zum Halbfinale in dieser Saison nur ein Turnierspiel in Dortmund gegen Real Madrid verloren. Wir haben viel Kraft aus Siegen gezogen, hatten Selbstvertrauen.“
„Das Endspiel im Halbfinale“
„Das Endspiel im Halbfinale“ titelt eine Zeitung vor dem ersten Duell gegen den VfB Stuttgart, seinerzeit ebenso Stammgast in den entscheidenden Meisterschaftsphasen der höchsten Jugenden – 1982 und 1983 hatte die Eintracht jeweils den VfB auf dem Weg zur Meisterschaft besiegt. Am Tag danach waren die Schlagzeilen aus Sicht der Eintracht ernüchternd. „In die Konter gerannt“, „Kalte Dusche“, „Freudengesänge in der VfB-Kabine“. 0:3 hatte die Eintracht verloren – aber abgeschrieben werden sie noch nicht. „Die Leistung hat gestimmt, wir hatten auch unsere Chancen“, berichten Conrad, Gerster und Ernst heute. Andere Überschriften nehmen diesen Ball auf: „Da ist noch was drin“, „Zuversichtliche Eintracht“.
Wir werden marschieren, bis es kein Morgen gibt.
Alexander Conrad mit Blick auf das Rückspiel gegen den VfB Stuttgart
„Klaus hat gesagt: Wir beten, dass es beim Rückspiel 40 Grad heiß wird. Wir werden marschieren, bis es kein Morgen gibt. Ein 1:0 zur Halbzeit ist okay“, erzählt Conrad. Genau so kommt es, vor 4500 Zuschauern im „Hexenkessel“ Höchster Stadtpark. „Wir brauchen gerade gegen Stuttgart einen Platz ohne Laufbahn, bei dem die Jungs die Atmosphäre hautnah spüren“, hatte Gerster seinerzeit über die damalige Heimspielstätte der Eintracht für die K.o.-Spiele geurteilt. Glühende Hitze, Reubolds Tor nach 100 Sekunden zum 1:0-Pausenstand, eine kämpferische und läuferische Topleistung mit „noch höherem Tempo“ (Gerster) in Halbzeit zwei und den nötigen Toren durch Walz (48./61.) und erneut Reubold (53.) – es passte alles. „Ich habe an die Mannschaft geglaubt. Das Spiel ist so gelaufen, wie wir es uns erhofft hatten“, so Gerster.
Der Finalplatz in Mannheim gegen das von Michael Reschke (später viele Jahre Nachwuchsleiter und Calmund-Nachfolger als Manager) trainierte Bayer 04 Leverkusen ist gebucht, die Experten und Journalisten sehen die Eintracht in der Favoritenrolle. Alex Conrad spielt beim Stand von 2:2 Richard Walz in den Lauf, der im Strafraum ins Stolpern kommt. „Das war eher kein Elfmeter“, meint Conrad. Andres Iglesias übernimmt, da Vucak zuletzt vom Punkt gegen Stuttgart gepatzt hatte. „Andres liebte diese Situationen“, schmunzelt Conrad. Der Verteidiger erzielt gegen den späteren Bundesligatorhüter Bernd Dreher sein erstes Saisontor, das 3:2 ebnet den Weg zum Titel.
„Eintracht hat eine Super-Elf“, „Der Talentschuppen schlug wieder zu“ – die Medien waren sich einig, dass die Eintracht verdient Deutscher Meister geworden ist. Der damalige DFB-Nachwuchstrainer Berti Vogts hatte schon nach dem Halbfinale gesagt: „Frankfurt stellt die beste deutsche Jugendmannschaft“. Alles nachzulesen in Klaus Gersters Heft „Der Weg zum Triumph“, das er für jeden seiner Spieler drucken ließ. Übrigens: Dass die Medien so berichtet haben, sei auch „ein Verdienst von Klaus gewesen, der das immer gepusht hat und damit auch seinen Anteil an dem großen Zuschauerzuspruch hatte“, meint Thomas Ernst. Der Torhüter – der Eintracht immer noch über die Traditionsmannschaft verbunden – hat das Heft immer noch zuhause liegen. 40 Jahre nach dem großen Triumph von Mannheim.