29.05.2019
Historie

„Zeitversetzte Stimmungsschwankungen“

Alexander Schur kann vom Abstiegsfinale am 29. Mai 1999 berichten, als sei es erst gestern geschehen. Aber lest selbst.

Wenn die Leute heute vom Endspiel gegen Kaiserslautern sprechen, haben sie natürlich recht. Doch ehrlich gesagt ging es an jedem einzelnen der letzten vier Spieltage um Alles. Wir lebten jede Woche in dem Bewusstsein, bei einer weiteren Niederlage absteigen zu können. Die Öffentlichkeit hatte uns angesichts des Restprogramms gegen überwiegend Topteams ohnehin abgeschrieben. Kurz gesagt: Wir standen in jedem Spiel am Abgrund.

Doch nach dem 2:2 gegen den HSV haben wir mit jedem Sieg ein größeres Selbstbewusstsein entwickelt, sind in einen regelrechten Flow geraten und haben uns an den stärker eingeschätzten Gegnern hochgezogen. Dabei kam uns Spielern zugute, dass vom Vereinsumfeld große Ruhe ausging. Sowohl das Präsidium als auch Trainer Jörg Berger strahlten in jedem Moment Zuversicht aus. Gerade Bergers Gelassenheit war extrem wichtig, damit wir unser Nervenkostüm im Griff behalten konnten. Ich weiß noch, als ich in der Pause auf Schalke (1:2-Rückstand; Anm. d. Red.) völlig angespannt die Rolltreppe in der Arena hochgefahren bin. Doch nach Bergers Halbzeitansprache war die Verkrampfung wie verflogen, die Lockerheit war bei allen zurück! Vielleicht war es auch ein Vorteil, dass wir wussten, uns auf niemanden außer uns selbst verlassen zu können. Dieses Spiel noch gedreht zu haben, war die Initialzündung für das folgende Finale.

Hoffnungsvolle Blicke

Dann kam der 29. Mai. Schon auf der Busfahrt ins Waldstadion vermittelte jeder aufgrund der vorangegangenen Erfolgserlebnisse den Glauben, dass heute alles möglich ist. Wir haben auf unser Finale hingefiebert! Auch im übertragenen Sinne, denn ich kann mich noch gut an die Hitze an diesem Tag erinnern, in Kombination mit unserer Aufregung stieg das Thermometer gefühlsmäßig noch um ein paar Grad. Auch die hoffnungsvollen Blicke, mit denen uns die Zuschauer vor dem Stadion empfangen haben, werde ich nicht vergessen. Diese Symbiose zwischen Rasen und Rängen sorgte für den entscheidenden Energieschub – vergleichbar mit der diesjährigen Europapokalsaison, auch wenn die Drucksituation eine andere war.

Dabei verlief die Partie aus Spielersicht etwas skurril: Unsere Fans waren mit den Augen zwar bei unserem Spiel, mit den Ohren aber auf den anderen Plätzen, indem sie diese legendäre Konferenz verfolgt haben. Um jeden, der ein tragbares Radio bei sich hatte, hatte sich schnell eine Menschentraube gebildet. Wahnsinn! Die Entwicklungen in den Fernduellen brachten gewisse zeitversetzte Stimmungsschwankungen mit sich, beispielsweise Torjubel, obwohl bei uns nicht viel passierte – unvorstellbar!

Jedenfalls bis nach der Pause, als das 1:0 durch Chen Yang wie eine Befreiung auf alle Beteiligten wirkte. Mit dem 3:1 war der FCK tot, während wir aus jedem Zweikampf, jedem Konter zusätzliche Kraft zogen. Trotzdem: Auch wenn wir die Signale von draußen ungefähr deuten konnten, konnten wir uns selbst nach dem 5:1 unserer Sache nicht sicher sein. Hätte Nürnberg am Ende nicht seine Riesenchance vergeben, wäre es wahrscheinlich schwer geworden.

Mit Trikot im VIP-Bereich

Als die Rettung amtlich war, verschwamm alles mit jedem. Unsere Fans stürmten das Spielfeld und legten all ihre verbliebenen Reserven in diesen einen Jubelsprint. Zeitweise hatte ich fast etwas Angst, so außer Rand und Band wie alle waren. Als wir es dann in die Kabine geschafft hatten, blieben die Kehlen natürlich nicht lange trocken. Ich sehe noch heute vor mir, wie mich Jan Aage Fjörtoft überredet hat, im Trikot den VIP-Bereich zu stürmen, wo er kurzerhand eine 2,5-Liter-Flasche geköpft hat – mitten auf Petra Roth. Die Schminke war dann ab.

Aber genau solche Szenen versinnbildlichen den Geist, der damals alle Bereiche verbunden hat. Ob Sportler, Fans, Offizielle, Reporter oder Politiker: Sie alle verband das eine große Ziel Klassenerhalt. Dass bei den Feierlichkeiten sogar Schiedsrichter Jürgen Jansen zugange war, musste wohl zum gegebenen Ausnahmezustand dazugehören. Diese Verschworenheit lebten wir auch teamintern. Es gab einen harten Kern von sechs, sieben, manchmal zehn Spielern, die auch außerhalb des Sports vieles gemeinsam unternommen und den Kontakt zu den Fans gesucht haben, die uns umgekehrt dafür vieles verziehen haben. Ich persönlich habe eine hohe Eigenmotivation auch aus dem Gang durch die Katakomben gezogen, als uns von den Wänden die Legendenbilder um Jürgen Grabowski – fast mahnend – angeschaut haben. Sollte diese Nuance am Ende tatsächlich ausschlaggebend für das entscheidende Quäntchen, das letzte Tor gewesen sein, so will ich gerne daran glauben.