Situation
Vor nicht allzu langer Zeit wirkte Werder Bremen wie ein Scheinriese: Groß aus der Ferne, doch aus nächster Nähe auf Normalmaß gestutzt. Immerhin belegt der vierfache Deutsche Meister in der Ewigen Tabelle der Bundesliga nach wie vor Platz zwei. Auf der anderen Seite hatten die traditionsreichen Grün-Weißen bis zuletzt mehr mit Abstiegssorgen denn um die Spitze zu kämpfen, die letzte Europapokalteilnahme datiert von 2010. Den letzten Titel gab es 2009 im DFB-Pokal.
Doch seit vergangener Saison scheint der vielfach beschworene Bremer Weg Früchte zu tragen. Seit 2016 hat mit Geschäftsführer Sport Frank Baumann ein Held vergangener Tage das sportliche Sagen, passend dazu fungiert mit Marco Bode eine weitere Vereinslegende seit 2014 als Aufsichtsratsvorsitzender. Und spätestens mit der Installation des vormaligen U23-Trainers Florian Kohfeldt als Chefcoach Ende 2017 ging auch auf dem Platz wieder ein Kulturwandel einher, der zumindest in der Spielanlage an beste Bremer Zeiten erinnert. Symbolträchtig die vierte (!) Verpflichtung Claudio Pizarros im Sommer. Auch Rückkehrer und Eigengewächs Martin Harnik sei an dieser Stelle zu nennen. Ohnehin hat der spielerische Wagemut auf das Kaufverhalten abgefärbt, wovon Verpflichtungen von heutigen Schlüsselspielern wie Davy Klaassen (FC Everton) und Nuri Sahin (Borussia Dortmund) zeugen.
Die damit signalisierten Ambitionen sind dennoch mehr Traum als Pflicht, wie Kohfeldt unlängst bei Sky90 betonte: „Wir wollen nach Europa, aber wir müssen nicht. Wir wollen für eine gewisse Art von Fußball stehen und eine Spielidee repräsentieren.“
Formkurve
Was auch damit zu tun hat, dass die Kicker von der Weser vor Schwankungen nicht gefeit sind. Auch wenn der Rückrundenauftakt bei Hannover 96 verdient mit 1:0 gelang, hing der knappe Sieg wegen der mauen Chancenverwertung - 14 Schüsse aufs Tor - bis zum Schluss am seidenen Faden. Weshalb im zweiten Abschnitt der Hinrunde in acht Spielen nur ein Sieg heraussprang. Nichtsdestotrotz blicken die mit einer exakt ausgeglichenen Bilanz von sieben Siegen wie Niederlagen und 29:29 Toren auf Rang neun geführten Werderaner eher nach oben als nach unten. Bemerkenswert in dieser Hinsicht ist, dass Bremen als einzige Mannschaft in dieser Saison in jeder Partie getroffen hat. Weshalb eine weiße Weste bislang gleichbedeutend mit drei Punkten war.
Trainer
Auch für Florian Kohfeldt ging es in den vergangenen Jahren stetig bergauf. Hatte der 36-Jährige als Torhüter höchsten Ansprüchen nicht genügt, zündete er auf der Trainerbank früh den Turbo. Schon mit Mitte 20 trainierte der studierte Sport- und Gesundheitswissenschaftler diverse Nachwuchsteams des SVW, ehe er zwischen 2014 und 2016 seinem früheren U21-Trainer Viktor Skripnik in der Bundesliga assistieren durfte. Während der Saison 2016/17 führte der gebürtige Siegener die U23 zum Klassenerhalt in der Dritten Liga, ehe er am 30. Oktober 2017 die Profis zunächst interimsweise übernahm. Die Erstligapremiere in verantwortlicher Position endete mit einer 1:2-Niederlage – am 3. November bei Eintracht Frankfurt. Dennoch kehrte mit der Ernennung zum Cheftrainer und der Etablierung eines mutigeren Spielstils bald der Umschwung ein, Kohfeldt blieb bis zum Saisonende zuhause zwölfmal ungeschlagen und beschloss die vergangene Saison souverän auf Platz elf.
Taktiktafel
Der Hang zum Spektakel spiegelt sich beim Trainer-Youngster vornehmlich in einem 4-3-3 mit nominell drei zentralen Angreifern wider, was jedoch nicht in Stein gemeißelt ist. Gerade der nominelle Stoßstürmer Max Kruse, seines Zeichens gelernter Zehner, kippt gerne ins Mittelfeld ab, woraus sich in Addition mit dem Mittelfelddreieck eine Raute ergibt. Grundsätzlich schalten sich sowohl die beiden Achter, meist England-Import Klaassen und Toptalent Maximilian Eggestein, genauso ins Angriffsspiel ein wie die beiden Außenverteidiger. Die beiden Pärchen links und rechts überladen somit die von den eingerückten Halbstürmern freigelassenen Außenbahnen. Bremen ist sich aber auch nicht zu schade, gerade nach eigener Führung, in ein konservatives 4-4-2 zu switchen und zweckmäßig auf Konter zu lauern.
Spieler im Fokus: Maximilian Eggestein
Er ist ein strahlendes Gesicht des Wandels an der Weser: Maximilian Eggestein. Wie Coach Kohfeldt aus dem eigenen Stall stammend hat der 22-jährige Juniorennationalspieler die Werder-Werte von Teenagertagen an verinnerlicht. Unter Kohfeldts Vorgängern zunächst auf die reine Spielmacher-, Flügel- oder Einwechselfunktion beschränkt, blüht der gebürtige Hannoveraner als Box-to-Box-Player in den Halbräumen richtig auf. Auch tat ihm eine zeitweilige Zurückstufung in die U23 sichtbar gut, wo der Allrounder Führungsqualitäten entwickelte.
Verantwortung übernimmt Eggestein längst auch im Oberhaus, wo er im zentralen Mittelfeld seine Stärken am ehesten zur Geltung bringt. 2017/18 kam der große Bruder von Johannes Eggestein, dem ursprünglich ein noch größeres Talent zugeschrieben wurde, auf 33 Einsätze, in dieser Spielzeit spulte nur Dauerbrenner Theodor Gebre Selassie mehr Minuten als Eggestein (1.613) ab. Das Konditionswunder spielt nicht nur oft, sondern auch aufwändig, läuft selten weniger als zwölf Kilometer und verschafft seinen Kollegen durch seine weiten, räumöffnenden Wege mehr Platz. So wie eben Gebre Selassie als hinterlaufender Außenverteidiger. Darüber hinaus glänzt der 1,81-Meter-Mann mit einer formidablen Schusstechnik, brachte es in der Hinrunde auf vier Tore, dazu einen Assist. Die physische Stärke macht sich nicht zuletzt auch im Spiel gegen den Ball bezahlt, indem der Allrounder viele Lücken zuläuft und seine Gegenspieler in aggressive Zweikämpfe verwickelt.