Das Losglück war der Eintracht vergleichsweise hold gewesen. Schließlich wurden ihr „nur“ die Glasgow Rangers zugelost. Die Alternativen Real Madrid und der FC Barcelona wären noch härtere Brocken gewesen. Aber die Rangers galten nichtsdestotrotz als übermächtig, wie Egon Loy erklärt: „Trotzdem dachte kaum einer an unsere Chance. Die Schotten waren gestandene Profis, wir waren Feierabendfußballer, die pro Woche zwei bis dreimal trainiert haben.“ Selbst vor dem Hinspiel gegen Glasgow hatte Egon Loy noch bis 14.30 Uhr gearbeitet. „Danach haben wir uns in der Sportschule neben dem Stadion auf eine Tasse Kaffee getroffen und dann wurden ein paar taktische Dinge besprochen.“ Anschließend ging es raus ins Waldstadion, die Sensation wurde mit dem unglaublichen 6:1 eingetütet. Alle waren begeistert. Alle? Egon Loy ärgerte sich etwas, dass er einmal hatte hinter sich greifen müssen. Schließlich hatte er mit seinem Arbeitgeber, der Metallgesellschaft eine besondere Abmachung getroffen: „Für jedes Spiel ohne Gegentor erhielt ich zwei Tage Sonderurlaub, die ich aber nur für Eintracht-Spiele nutzen durfte.“ Das galt für die Oberliga Süd genauso wie für den Europapokal.
Bis heute schwärmen alte Eintrachtler vom besten Spiel, das die Eintracht jemals gemacht hat. Seit 2018 wird allerdings auch das DFB-Pokalfinale noch ergänzend erwähnt. Gegen die Rangers siegte die Eintracht an jenem 13. April 1960 vor 77.000 begeisterten Fans mit sage und schreibe 6:1. Das Spiel ging ernüchternd los, in der achten Minute verschoss Richard Kreß einen Elfmeter. In der 28. Minute gelang Stinka die Frankfurter Führung, die postwendend durch Caldow per Strafstoß ausgeglichen wurde. Doch im zweiten Durchgang spielte sich die Eintracht in einen Rausch. Pfaff (zwei), Lindner (zwei) und Stein sorgten für den Kantersieg der SGE. Die Presse lobte in den folgenden Tagen nicht nur die Spieler überschwänglich, sondern auch die Fans. Die hatten nämlich zuhauf ihre übrig gebliebenen Silvesterraketen mitgebracht und nach den Toren immer wieder abgefeuert. Das Feuerwerk auf und neben dem Platz kam bei den Medien gut an und selbst in der Vereinszeitung der Eintracht konnte man in einem veröffentlichten Brief lesen: „Eine Viertelstunde vor Spielbeginn – das Vorspiel war aus – kochte dann das Stadion wie ein Kessel Wäsche oder besser noch wie der Krater eines Vulkans. Rauchschwaden, Raketen, Leuchtkugeln, bengalisches Feuer, wogende Massen und schließlich der große Ausbruch der Stimmorkane machten die Illusion fast zur gespenstischen Wirklichkeit – ein surrealistisches Bild. Der Lautsprecher sprach von kleinen Waldbränden und beschwor zahlreiche Menschen, die in die Lichtmasten gestiegen waren, wegen Lebensgefahr herunterzukommen. Vergeblich. Nun siegen noch mehr gen Himmel.“ Geldstrafen gab es damals für das Feuerwerk übrigens keine, nur viel Lob von allen Seiten.
Fair Play in Glasgow
Das Rückspiel bei den Schotten, das im „kleinen“ Ibrox-Park stattfand, wurde vor rund 67.000 Zuschauern zu einer wundervollen Pflichtaufgabe: „Wir hatten den Gegner beim 6:3 eigentlich immer in Griff, lagen nie in Rückstand.“ Wobei der Keeper seinem Spielmacher Alfred Pfaff ein Sonderlob ausstellt: „Da die Schotten sehr aggressiv waren, hatten wir oft Platz nach vorne. Und so konnte der Alfred unsere Stürmer mit tollen Pässen in Szene setzen.“ Lindner, Pfaff (zwei), Kreß und Meier (zwei) trafen für die SGE, die Rangers-Tore erzielten McMillan (zwei) und Wilson. Nach Abpfiff staunten die Spieler nicht schlecht. Das Publikum applaudierte der SGE, die Mannschaft musste auswärts eine Ehrenrunde laufen. Und als die Spieler an den Spielertunnel kamen, hatten sich da die Gegner der Rangers im Spalier aufgestellt und applaudierten den Frankfurtern ebenfalls. Diese Geste des britischen „Fair Play“ kannte man in Deutschland nicht, wie sich auch Erwin Stein erinnert.
„Ich weiß noch, dass unser Trainer Paul Oßwald Originalbälle aus Schottland besorgt hat. Mit denen haben wir eine Woche trainiert. Die waren so hart, dass einige von uns nach Kopfbällen zu Boden gegangen sind. Das war eine Umstellung, aber wir waren vorbereitet. Die beiden Partien waren ungemein körperbetont. Man ging in Kopfballduelle und flog danach regelrecht durch die Luft. Aber als man wieder aufstand, kam der Gegenspieler, gab einem einen Klaps auf die Schulter oder reichte einem die Hand.“ Das war beeindruckend. Nach dem Rückspiel standen die Spieler für uns Spalier und die Fans verabschiedeten uns mit Stehenden Ovationen. Das war Fairplay!“ Sie beeindruckte Spieler, Fans und Medienvertreter, die in den Folgetagen ausführlich darüber berichteten. Neben dem vielen Applaus bekam Alfred Pfaff vom Rangers-Direktor John Wilson übrigens noch einen Koks auf dem Tablett serviert. Der Hut hatte es Pfaff angetan, und er wollte ihn unbedingt haben. Der signierte Koks ist heute im Eintracht-Museum ausgestellt, das Heimpublikum war so begeistert, dass sie später beim Finale mehrheitlich die Deutschen und nicht die favorisierten Königlichen von Real Madrid anfeuerten.
Das Halbfinale
Hinspiel, 13. April 1960
Eintracht Frankfurt – Glasgow Rangers 6:1 (1:1)
Loy – Lutz, Höfer – Weilbächer, Eigenbrodt, Stinka – Kreß, Lindner, Stein, Pfaff, Meier – Trainer: Oßwald.
Tore: 1:0 Stinka (28.), 1:1 Caldow (29., Foulelfmeter), 2:1 Pfaff (52.), 3:1 Pfaff (55.), 4:1 Lindner (73.), 5:1 Lindner (84.), 6:1 Stein (87.) – SR: Lindberg (Schweden) – Zuschauer: 75.069 (im Stadion) – Besonderes Vorkommnis: Kreß schießt Foulelfmeter am Tor vorbei (8.).
Rückspiel, 5. Mai 1960
Glasgow Rangers – Eintracht Frankfurt 3:6 (1:3)
Loy – Lutz, Höfer – Weilbächer, Eigenbrodt, Stinka – Kreß, Lindner, Stein, Pfaff, Meier – Trainer: Oßwald.
Tore: 0:1 Lindner (8.), 1:1 McMillan (12.), 1:2 Pfaff (20.), 1:3 Kreß (27.), 2:3 McMillan (53.), 2:4 Meier (67.), 2:5 Meier (69.), 3:5 Wilson (73.), 3:6 Pfaff (88.) – SR: Lööw (Schweden) – Zuschauer: 68.578 (im Ibrox Park).