„Fußball ist keine Mathematik.“ Bald anderthalb Jahrzehnte in der Welt, hat sich dieses geflügelte Zitat längst je nach Anlass als Binse, Kult oder Phrase verstetigt. Und nicht zuletzt als Trugschluss. Denn nicht erst, seit 2011 das auf einer wahren Begebenheit basierende Sportdrama „Moneyball: The Art of Winning an Unfair Game“ das öffentliche Bewusstsein für die gewinnbringende Verwendung von Datenanalysen im Sport schärfte, legen die aktuellen Entwicklungen abseits des Rasens das Gegenteil nah.
Nun verbergen sich hinter dem Fußball sicher wesentlich komplexere Abläufe als in populären US-Sportarten wie Base- oder Football, doch Ansatz und Anspruch, welche die DFB-Akademie, das DFL-Tochterunternehmen Sportec Solutions und Eintracht Frankfurt gemeinschaftlich verfolgen, bleiben gleich: Durch die gezielte Symbiose von Informatik-, Daten- und Fußballexpertise anwendungsorientiertes Wissen zu generieren und im Arbeitsalltag umsetzbare Ergebnisse zu erzielen. Die untersuchten Ressourcen bündeln sich unter dem neumodischen Begriff hackathon2. Sebastian Zelichowski, Vorstandsreferent bei Eintracht Frankfurt, bezeichnet das Projekt als „außergewöhnlich, weil es das in dieser Konstellation gepaart mit der konkreten Zielvorgabe noch nie gegeben hat.“ Zumal vom Doppelpass zwischen der DFB-Akademie, DFL und Eintracht, von Mensch und Maschine am Ende alle Bundesligavereine profitieren sollen. Konkret: Die Ergebnisse werden über das gemeinsame Liga-Portal für alle Erst- und Zweitligisten sowie die Auswahlmannschaften des DFB zugänglich sein.
13 Challenges, 68 Spiele, 3,6 Millionen Daten
Bis es so weit ist, werten seit der Kick-off-Veranstaltung im Rahmen des DFB-Pokalspiels gegen Leipzig Anfang Februar 13 Gruppen von je zwei bis vier Personen mit datenanalytischem wie praxisnahem Background mehr als 68 Partien der vergangenen beiden Spielzeiten 2017/18 und 2018/19 aus. Die Teilnehmer bearbeiten je eine Challenge, wie sich die Aufgabenstellungen auch nennen. Bei der ganzheitlichen Spielbetrachtung handelt es sich vordergründig um Ereignis- und Positionsdaten. Erstere kategorisieren bestimmte Aktionen wie Einwürfe, Gelbe Karten, Pässe oder Torschüsse. Die Positionsdaten, anhand derer die physischen Daten (Laufdaten) erhoben werden, ergeben sich aus den Messungen durch ein optisches Kamerasystem mit 25 Bildern pro Sekunde. Insgesamt kommen dadurch pro Spiel circa 3,6 Millionen Datenpunkte zusammen. „Gerade in der Datentiefe sind wir sehr weit und versuchen immer neue Wege zu gehen. Unser Ziel ist es, Ergebnisse zu erzielen, die wir im ligainternen solidarischen Grundgedanken allen Klubs zur Verfügung stellen können und damit idealerweise Arbeitsprozesse optimieren können“, ist Sportvorstand Fredi Bobic vom kollektiven Mehrwert überzeugt.
Um einen solchen zu generieren, bedarf es nicht nur so vieler Daten, sondern auch so viel Zeit wie möglich, wie Zelichowski aufzeigt. Nachdem der erste Anlauf nach dem Länderspiel im September zwischen Deutschland und der Niederlande sprichwörtlich über Nacht stattgefunden hatte, „haben wir uns mit den DFB-Vertretern und der DFL zusammengesetzt und ein neues Konzept ausgearbeitet.“ Daraus ergab sich ein erweiterter Bearbeitungszeitraum von drei Monaten, der sich durch die Unterbrechung der Bundesliga-Rückrunde, der Verlegung der Europameisterschaft und Olympischen Spielen mittlerweile länger gestaltet – sicher nicht zum Nachteil hinsichtlich fundierter Forschungserkenntnisse und Arbeitsergebnisse. Die Zwischenergebnisse prüfen die Teilnehmer in regelmäßig stattfindenden (virtuellen) Treffen gemeinsam mit ihren jeweiligen Mentoren.
In weiteren Keynotes, die wahlweise Impulsvorträge, Präsentationen von Resultaten, Arbeitsweisen oder Ideen beinhalten, wird den Teilnehmern zusätzlicher Input mitgegeben. „Wir sind in allen Challenges auf einem guten Weg. Die Teilnehmer machen wirklich tolle Arbeit“, bestätigt Zelichowski, der zugleich als Mentor für einige Arbeitsgruppen fungiert. Während das Team der DFB-Akademie den letztjährigen ersten Hackathon gewinnen konnte, zählen zu den Teilnehmern auch vermehrt internationale Vertreter wie SL Benfica, die der 37-Jährige gemeinsam mit weiteren namhaften Mentoren aus dem deutschen Fußball betreut. Neben weiteren Interessenvertretern und Teilnehmern aus der 1. und 2. Bundesliga oder aus den Niederlanden (der nationale Fußballverband KNVB und einige Erendivisie-Clubs) oder aus den USA die San Jose Earthquakes, steht der portugiesische Rekordmeister exemplarisch für die neue Wissenschaft mit mehreren festangestellten Datenanalysten im sportlichen Bereich. So erwies sich die Nationalmannschaft Portugals während der Weltmeisterschaft 2018 in Russland mit im Schnitt sechs Zentimetern weniger Körperlänge und zwölf Kilogramm weniger Körpergewicht als ungleich schmächtiger. Nichtsdestotrotz sind die Iberer amtierende Europameister – weil sie infolge der errechneten Matrix auf technische und taktische Stärken setzten.
Wie ein großes Puzzle
Gleichwohl soll der hackathon2 ausschließlich nationalen Belangen zugute kommen, wie Zelichowski an einem positionsspezifischen Beispiel verdeutlicht: „So lassen sich aus Spieleraktionen physische Daten und Anforderungen ableiten und einordnen.“ In diesem Zusammenhang klingt es bemerkenswert, dass nur aus fast jeder 100. Ballbesitzsituation ein Tor resultiert, weshalb Mannschaften ihre Szenen längst nicht mehr allein nach Quantität, sondern vielmehr nach Qualität auswerten. Gleichzeitig verweist der frühere Chefanalyst der Lizenzspieler darauf, dass dies nur eines von tausenden Puzzlestücken sei, um Verhaltensweisen berechenbarer oder signifikant aussagekräftig zu machen. Derlei Parameter kann unter anderem der DFB-Akademie in ihr speziell für Stürmer angedachtes Ausbildungsprogramm einfließen lassen.
Überhaupt die Ausbildungssteuerung: Erst vergangene Woche präsentierte das Nachwuchsleistungszentrum Thomas Broich und Jerome Polenz als künftiges Trainergespann der U15. Zustande kam der Kontakt zu den zu Taktik- und TV-Experten herangereiften einstigen Bundesligaprofis durch den ersten Hackathon. Was in diesem Fall eine für alle Beteiligten glückliche Fügung bedeutet, könnte für Zelichowski in weiterer Hinsicht zum Modell taugen: „Unser Ziel ist es, alle Personen – ob Entscheidungsträger, Trainer, Analysten oder Datenexperten – für die neuen Möglichkeiten zu sensibilisieren und möglichst zu involvieren.“ Die Tendenz sieht vielversprechend aus: „Nicht nur wir als Eintracht haben eine hohe Motivation, uns in dieses Projekt einzubringen. Viele Liga-Kollegen beteiligen sich und es bereitet allen Freude, ein neues Bewusstsein und Verständnis für die Thematik zu schaffen“, berichtet Zelichowski von seinen Erfahrungen. Bobic bekräftigt: „Wir sind stolz, gemeinsam mit dem DFB und Sportec Solutions den hackathon2 auszurichten und freuen uns auf die Resultate.“
Entlastung durch Automatisierung
Inwieweit diese die Vereine und Nationalmannschaften entlasten könnten, wissen die Adlerträger aus eigener Erfahrung. Seit anderthalb Jahren ununterbrochen im Europapokal und damit oftmals im Dreitagesrhythmus gefordert, stehen nicht nur die Sportler, sondern auch die Spielanalysten unter einer hohen Dauerbelastung. Die neuesten Technologien sollen bei erfolgreicher Aufgabenbewältigung insofern Abhilfe schaffen, indem sie immer wiederaufkommende Prozesse automatisieren und damit mehr Zeit für die wichtigen manuellen Detailanalysen sichern.
Wie die Eintracht eben in der UEFA Europa League erfolgreich Punkte für die UEFA-Fünfjahreswertung sammelt, spiegelt sich der Solidargedanke nicht weniger in Form des hackathon2 wider. Weshalb der Einfluss der Mathematik entgegen früherer Annahmen zweifellos zunimmt – der Teamgedanke in Fußballdeutschland wiederum ist so ausgeprägt wie nie.