19.04.2020
Team

Früh reif

Internat und A-Jugend-Debüt mit 16, Profivertrag und eigene Bude mit 18. Patrick Finger ist von der schnellen Sorte. Doch mit der derzeitigen Entschleunigung kommt er zurecht. Aus Erfahrung.

Dass Leistungssport und Quarantäne keine kompatible Kombination darstellen können, lässt sich auch auf kurze Dauer feststellen. Cheftrainer Adi Hütter vermisst „schon Kleinigkeiten, wie sich die Hand zu geben oder zu umarmen“, Stefan Ilsanker „hätte Lust, endlich mal wieder jemanden wegzugrätschen“ und Nachwuchstorwart Max Hinke fehlt einfach „das Gefühl, gemeinsam auf dem Platz zu stehen.“ Allesamt Einblicke, die so auch von Patrick Finger stammen könnten. Eigengewächs und Energiebündel, im Spiel wie Training stets im roten Bereich und in Hausarrest scheinbar so genießbar wie ein Heimspiel ohne Zuschauer. Denkste.

Mitten im Leben

„Ich vermisse zwar den Sport, aber persönlich geht es mir gut“, berichtet der 19-Jährige kurz nach Ostern und liefert eine einleuchtende und für sein Alter trotzdem bemerkenswerte Begründung: „Viele sagen, wir haben es schwer. Aber wenn wir weiter zurückblicken, gab es noch viel schlimmere Zeiten“, erkennt der an Neujahr 2001 geborene Mittelfeldspieler seine Privilegien. Befürchtungen, dem Dauerbrenner fliege im Elternhaus in Riedstadt die Decke auf den Kopf, wischt Finger ebenso zur Seite: „Ich kompensiere vieles mit Sport, gehe über unsere Trainingspläne hinaus viel laufen, kicke im Garten und spiele mit meinem Bruder Badminton oder Tischtennis.“ Familiärerer Luxus, der in den vergangenen Jahren eher seltener gegeben war.Als Finger 2015 aus der Jugend von Darmstadt 98 an den Riederwald wechselte, war dies später gleichbedeutend mit dem Einzug ins Internat des Nachwuchsleistungszentrums. „Ich wollte die dortigen Trainingsbedingungen wie den Kraftraum möglichst oft nutzen und hatte auch kürzere Wege zur Schule“, erläutert der Teenager die Hintergründe. Vor einem Jahr folgten die nächsten persönlichen Meilensteine: Erster Profivertrag im Februar 2019, Umzug in die erste eigene Wohnung in Enkheim im März und zugleich die neue Herausforderung, außerhalb des grünen Rechtecks Fuß zu fassen. Das Leben in den eigenen vier Wänden sei schon nochmal etwas anderes als im Internat, „als die ersten Wochen ohne die Familie auch nicht einfach“ gewesen seien. Doch nach einem Jahr ist der Perspektivenwechsel erfolgreich vollzogen, wie Finger bestätigt: Der bewusste Umgang mit Geld, Gedanken um Versicherungen und Energiekosten, kurzum: „Eine andere Sicht aufs Leben.“ Die in diesem Alter eher die Ausnahme bildet.

B-Jugend, Jungjahrgang, Jungprofi

In drei Stufen ließe sich auch der sportliche Werdegang gliedern. Als sich Finger zwischen 2016 und 2018 mit 42 Spielen, zehn Toren und zwölf Vorlagen zum unumstrittenen Leistungsträger der U17 aufgeschwungen hatte, unterstützte er noch als B-Jugend-Kapitän die U19 beim Kampf um den Klassenerhalt. Schon beim Debüt lieferte er die Flanke zum 1:0-Sieg beim SV Wehen Wiesbaden. „Es waren damals zwar nur vier oder fünf Wochen, die mich aber entscheidend weitergebracht haben, weil ich an der Seite von und gegen zwei Jahre ältere Akteure gespielte habe“, erinnert er sich. In der Spielzeit darauf kämpfte die U19 zwar erneut gegen den Abstieg, doch Finger blieb auch als Jungjahrgang gesetzt: 24 von 26 möglichen Einsätzen, zwei Treffer, acht Assists auf der einen, maximale Einsatzbereitschaft und Vielseitigkeit auf der anderen Seite, die auch an höchster Stelle nicht unbemerkt blieben.

Lob von höchster Stelle

„Ich habe viele Spiele von Patrick gesehen und bin ein Fan von ihm. Es ist immer gut zu sehen, wie er sich in den Dienst der Mannschaft stellt. Patrick hat ein Talent dafür, dass er sich auch in andere Positionen direkt hineinfinden kann, was ihn auszeichnet“, schwärmte Sportvorstand Fredi Bobic seinerzeit. „Es hat mich damals unglaublich gefreut, als gebürtiger Hesse beim größten Verein der Region einen Vertrag zu erhalten“, erwidert der Allrounder die Wertschätzung. Die Unterschrift war schnell Formsache, die Eltern am großen Tag auch dabei, gemeinsames Bild – Traum perfekt. Zumal wenige Monate später der erneute Klassenerhalt in der A-Junioren-Bundesliga feststand. „Sahverdi Cetin und ich haben uns am Abend vor dem entscheidenden Spiel in Ingolstadt eingeschworen: wir wollten nicht als die in Erinnerung bleiben, die mit der Eintracht in die Hessenliga mussten. Immerhin haben wir als höchste Ausbildungsstufe auch eine Verantwortung und Vorbildfunktion. Am letzten Spieltag haben wir wohl unsere beste Einstellung gezeigt, sowohl kämpferisch, emotional als auch spielerisch“, gewährt Finger Einblicke in die damalige Gefühls- und Gedankenwelt.Das Spieljahr 2019/20 konnte also kommen. Jungprofi, Führungsspieler, zudem seit April 2019 frischgebackener U18-Nationalspieler. Doch am ersten Tag der Sommervorbereitung erwischte Finger einen buchstäblichen für ihn untypischen Fehltritt, als er in einem Loch hängenblieb und umknickte. Videoanalyst Steffen Haas fuhr ihn noch am selben Tag zurück nach Frankfurt, Diagnose: Bänderriss im rechten Sprunggelenk. „Für mich, der bis dahin abgesehen von der anderen Seite [Syndesmosebandanriss und Bänderriss am linken Sprunggelenk; Anm. d. Red.] keine schwereren Verletzungen hatte, war das natürlich ungewohnt. Aber ich glaube, wenn eine Verletzung nicht zum ungünstigsten Zeitpunkt kommt, kann sie Körper und Kopf auch helfen“, liefert Finger überraschende Erkenntnisse: „Nach der Reha war ich fitter und athletischer und bereite mich seitdem noch bewusster vor, indem ich beispielsweise die Adduktoren lieber dreimal öfter dehne.“ Zugleich zeigt sich der Vollgasfußballer dankbar für die Unterstützung von Familie und Verein, sei es in Form von Fahrten zur Physiotherapie oder darin, „mich auf andere Gedanken zu bringen.“

Stärken stärken

Von positiver Grundstimmung kann Finger auch aus Erfahrungen im Lizenzspielerbereich berichten. „Auch wenn ein Pass nicht gelingt, muntern einen die Älteren auf, sagen: ‚Das passiert jedem mal, weiter geht’s!‘ Auch kleine Späße geben uns Jugendspielern zusätzlich Sicherheit. Natürlich geht alles schneller und körperlicher zu, aber jede Einheit bringt mich weiter und gibt mir ein gutes Gefühl.“ Neben dem Test gegen den SV Sandhausen und dem Benefizspiel in Mensfelden zählt der Hoffnungsträger insbesondere während Länderspielpausen fest zum Trainingsaufgebot.Den Einheiten im Jugendbereich kann Finger nicht weniger abgewinnen, was auch viel mit U19-Trainer Andreas Ibertsberger zu tun hat. „Gerade wenn er im Training selbst mitspielt, erkennt jeder seine Profierfahrung und Dinge, die wir übernehmen können.“ Finger versucht dabei, seine Stärken gleichermaßen zu verfeinern wie seine Defizite zu beheben, wie er an einem einfachen Beispiel verdeutlicht: „Wenn ich wie aktuell im Garten den Ball aus der Luft verarbeite, probiere ich das abwechselnd mit dem linken und rechten Fuß.“ Überhaupt ist sich Finger, der im offensiven Mittelfeld gleichermaßen wertvoll ist wie auf der Acht, Doppelsechs oder beiden Außenbahnen, seiner Vielfältigkeit bewusst: „Wenn jemand zwei, drei Positionen auf demselben Niveau ausfüllen kann, hat der Trainer automatisch mehr Möglichkeiten.“

Eintracht-Bettwäsche und Trikotmodel

Gesteigertes Potenzial hat Finger in der laufenden Spielzeit nicht nur persönlich, sondern vor allem mit Blick auf die U19 ausgemacht. „Der Teamgeist ist so ausgeprägt wie nie, seit ich hier bin. Wir haben von Einheit zu Einheit besser zusammen und zu unserem Spiel gefunden.“ Wie sehr die Formkurve nach oben gegangen ist, zeigt die imaginäre Rückrundentabelle, welche die Eintracht auf Platz zwei führt. Exemplarisch für die geschaffenen Automatismen betrachtet Finger, der nach zwölf Einsätzen schon wieder bei sechs Vorlagen steht, die neue Standardstärke. So führten zwei Ecken des Linksfußes zum 2:0-Sieg in Karlsruhe: „Es ist kein Geheimnis, dass Standards einen großen Anteil am Torerfolg haben. Entsprechend studieren wir regelmäßig zwei Tage vor einem Spiel diverse Varianten ein“, bestätigt die Nummer 38, die Ende Februar mit einem direkt verwandelten Freistoß nicht nur den Weg zum 3:1 gegen den FC Augsburg ebnete, sondern sich zugleich für das Tor des Monats empfahl.Logisch, dass die derzeitige Zwangspause zur Unzeit kommt. „Wir wären in der Lage gewesen, noch den einen oder anderen da oben zu ärgern.“ Gerade für jemanden wie Finger, der von sich selbst sagt: „Wenn ich etwas anpacke, lebe ich das zu 100 Prozent. Erst recht bei der Eintracht: Schon mit meinem Vater habe ich früher die Spiele gesehen, ich schlafe in Eintracht-Bettwäsche und versuche einfach, die Energie, die von diesem Verein ausgeht, in jedem Moment aufzusaugen.“ So gesehen auch auf ungewohntem Terrain. Vor der Saison stand der Jungspund als Model für das neue Heimtrikot vor der Kamera. „Das hat richtig Bock gemacht, weil die Leute am Set brutal nett waren und sich richtig gut um einen gekümmert haben. Am Ende haben wir acht, neun Stunden gedreht – und das für einen 1:20-Minuten-Clip“, spricht aus jeder Silbe Fingers das pure Herzblut. Kaum auszumalen, welche Ausmaße eine derartige Leidenschaft annehmen würde, sollte der Jung- alsbald zum Vollprofi heranwachsen.