Fredi Bobic hatte am Samstagabend gut lachen. Es ist zwar nicht überliefert, ob der Sportvorstand wusste, dass Stuttgarts Silas Wamangituka am Freitag mit seinem elften Saisontor nach 19 Spieltagen einen alten Bestwert aus 1996/97 eingestellt hatte, den der Eintracht-Sportvorstand seinerzeit als Stürmer des VfB Stuttgart geschaffen hatte. Der 49-Jährige erfreute sich in jedem Fall ausschließlich der Erfolgsgeschichten seiner eigenen Belegschaft: „Dass André Silva seine Form seit dem Restart so halten kann, ist Wahnsinn. Seine Entwicklung ist klasse.“
Es mag fast einfallslos wirken, Woche für Woche André Silva ins Scheinwerferlicht zu stellen. Aber am Fließbandschützen und Dauerarbeiter führte auch am Samstag kein Weg vorbei. Weder für Cheftrainer Adi Hütter noch für Medienschaffende noch für Statistikfreunde – man sei mittlerweile fast geneigt zu sagen: für His-tor-iker. Mit seinen Saisontoren 15 und 16 gelangen dem Frankfurter Toptorjäger nämlich so viele Treffer wie keinem Adlerträger zuvor nach 19 Spieltagen. Kein Theofanis Gekas, der 2010/11 für diese Zahl bis zur 27. Runde warten musste, kein Alex Meier, der 2014/15 am 23. Spieltag diese Marke knackte. Auch kein Bernd Hölzenbein, der in seiner persönlichen Rekordsaison 1976/77 mit 26 Treffern zu diesem Zeitpunkt bei zwölf Einschüssen gestanden hatte. Und auch kein Jörn Andersen, der 1989/90, als er die Torjägerkanone gewann, nach dem zweiten Rückrundenspiel zehn Treffer auf dem Konto hatte.
Von Silvas Kaltschnäuzigkeit vom Elfmeterpunkt ganz zu schweigen: Der Schlusspunkt in der Nachspielzeit zum 3:1 bedeutete den nun neunten von neun verwandelten Strafstößen des Portugiesen im Eintracht-Dress, der zuzüglich zwei Vorlagen an 18 der 38 Ligatreffer der Eintracht direkt beteiligt war. Wobei bei der Gesamtbewertung zwei Faktoren nicht zu kurz kommen dürfen.
Erstens verzeichnete der 25-Jährige nicht nur die meisten Torschüsse (vier), sondern auch die meisten Zweikämpfe (22) seines Teams, wovon er für einen Angreifer überdurchschnittliche 59 Prozent für sich entscheiden konnte.
Zweitens macht sich Silva längst nicht allein als gewiefter Zielspieler im Rücken der Verteidiger bezahlt, sondern weiß auch das Zusammenspiel mit Luka Jovic gewinnbringend einzusetzen. „Ein Schlüssel war auch, eine zweite Spitze gebracht zu haben, dadurch waren mehr Spieler in der Box“, zeigte Coach Hütter nach dem sechsten Sieg aus den vergangenen acht Ligabegegnungen, darunter zwei Remis, auf. Ein Wechsel, der bereits zum dritten Mal seine Wirkung nicht verfehlt hatte. Zunächst beim Heimspiel gegen Schalke, als der auf den kurzen Pfosten gelaufene Silva die Aufmerksamkeit der Verteidiger auf sich gezogen und Jovic den nötigen Freiraum geschaffen hatte, um die Flanke von Filip Kostic zum 2:1-Zwischenstand zu verwerten. Vergleichbar auch in Bielefeld, als die Nummer 33 den Weg in die Tiefe suchte, während sich der serbische Rückkehrer im Rückraum abgesetzt hatte – eine gegenläufige Bewegung, die kaum mehr zu verteidigen war und zum 5:1-Endstand führte. Und nun gegen Hertha BSC das umgekehrte Spiel, als Silva im Zentrum einmal genug Platz fand, um die maßgeschneidert Hereingabe von Kostic zum 1:1 einzuköpfen.
Es blieb nicht der letzte wegweisende Kopfball. Fünf Minuten vor Ende der regulären Spielzeit war es nämlich endlich so weit: Martin Hintereggers erster Saisontreffer! Ausgerechnet der Abwehrchef, in der Vorsaison noch mit acht Toren gesegnet und bisher auf sein erstes Erfolgserlebnis wartend. Zumal – kleine Ironie am Rande – der einzige Treffer in diesem Sinne im Hinrundenspiel in Berlin eingetreten war, als der Österreicher den Ball unfreiwillig ins eigene Gehäuse zum 1:3 gelenkt hatte.
„Ich hatte schon viele Chancen sowie ein paar Assists und Pfostentreffer, das hat natürlich genagt. Aber ich habe es in den vergangenen zwei Wochen im Training gespürt, dass die Treffsicherheit zurückkehrt, deshalb kam es für nicht völlig überraschend. Dass es dann das Tor zum 2:1 wird, ist natürlich überragend“, erklärte Hinti im Nachgang. Nicht von ungefähr kam auch die Vorlage des eingewechselten Almamy Toure: „Ich habe gewusst, dass Almamy oft auf den ersten Pfosten flankt. Der Ball ist genau da hingekommen, wo ich ihn haben wollte und ich musste nur noch meinen Schädel hinhalten“, bemerkte Hinteregger, der nach der Auswechslung von Makoto Hasebe die regenbogenfarbene für Vielfalt und Toleranz sprechende Kapitänsbinde übernommen hatte.
Abläufe, die auch Gäste-Coach Pál Dárdai nur allzu bewusst waren: „Frankfurt ist seit Jahren eingespielt, das hat man gesehen. Uns wiederum hat nach der Führung die Erfahrung gefehlt, damit umzugehen.“ Tatsächlich war es die mit einem Durchschnittsalter von 24,4 Jahren jüngste Berliner Startelf seit Juni 1972. „Das Ergebnis im ersten Spiel ist immer Glückssache“, betonte der neue alte BSC-Coach entsprechend, wohingegen Trainerkollege Adi Hütter auf bereits 126 Pflichtspiele als Eintracht-Trainer blickt. Routine, die sich gewissermaßen auch auf aufgeweichten Rasen im Deutsche Bank Park widerspiegelte. „In unserer Verfassung haben wir auch nach dem Rückstand die Ruhe, Geduld und Souveränität, wieder zurückzukommen“, lobte der Fußballlehrer das im Kalenderjahr 2021 mit 16 von 18 möglichen Punkten formstärkste Team der Bundesliga, nicht in Aktionismus verfallen zu sein. „Wir haben bereits in der ersten Halbzeit guten Fußball gezeigt“, befand der 50-Jährige. 86 Prozent angekommener Pässe vor der Pause sprechen ebenso für den immer gepflegteren Ball, der im Herzen von Europa an der Tagesordnung ist.
Vorneweg Djibril Sow, der sage und schreibe 93,3 Prozent seiner Zuspiele an den Mann brachte, davon 92,6 Prozent in der gegnerischen Hälfte. Sein Partner auf der Doppelsechs Makoto Hasebe spielte gleichzeitig absolut betrachtet die meisten Pässe jenseits der Mittellinie (38). Auch mit neun Ballgewinnen und 70 Prozent gewonnenen Zweikämpfen, wie Evan Ndicka, bewegt sich der Schweizer an der teaminternen Spitze und macht seiner Rolle als Triebfeder eine immer größere Ehre. Doch auch scheinbar eher unauffällige Stützen erfreuen sich großen Vertrauens: Tuta etwa, den fünf von zehn Kollegen am häufigsten anspielten. Dass der junge Brasilianer wiederum am häufigsten auf Hinteregger passte, untermauert dessen Status als zentrale Säule, 90 Ballkontakte wie 79 Pässe sind gleichermaßen top.
Mit Silva und Hinteregger tun sich somit zwei Zielspieler (und Spielentscheider) an beiden Enden des Spielfelds hervor, die das homogene Gesamtgebilde wohl am deutlichsten versinnbildlichen. Oder um sich Hintereggers Ausführungen zu vergegenwärtigen: „Wir sind froh, André zu haben und er ist froh, dass er bei uns ist. Ich denke, es gibt aktuell viele Stürmer, die gerne bei der Eintracht wären. André passt ins System und steigert sich selbst von Woche zu Woche. Wie er die Bälle hält und die Verteidiger beschäftigt, ist für keinen Gegner einfach. Er ist noch nicht am Ende seiner Entwicklung.“ Klingt wie eine Drohung, soll es wahrscheinlich auch.
Weniger bedrohlich als befürchtet stellte sich offenbar die am Freitag erlittene leichte Innenbandzerrung von Erik Durm heraus. Hütter rechnete auf der Pressekonferenz mit einer Ausfallzeit von 14 Tagen, maximal drei Wochen. Damit wird der rechte Flügelspieler voraussichtlich für das kommende Bundesligaspiel am Sonntag, 15.30 Uhr, bei der TSG Hoffenheim ausfallen. Hoffenheim, da war doch was... Richtig: Letztmals auf Rang drei stand die Eintracht nach dem 2:1 gegen die TSG am dritten Spieltag. Was nicht nur für Sportvorstand Fredi Bobic unerheblich ist: „Wir werden versuchen, die Euphorie intern hochzuhalten und zugleich klaren Kopf zu behalten. Als nächstes kommt Hoffenheim, darauf liegt unser Fokus.“ Konkret gesprochen auf den bevorstehenden sechs Trainingseinheiten von Dienstag bis Samstag. Denn auch wenn's tabellarisch fast nicht besser geht – leichter wird es auch nicht.