Adi Hütter hat sich in der Vergangenheit nicht gerade verdächtig gemacht, unrealistische Erwartungen zu schüren. Ambitioniert, ja, aber kein Träumer. Entsprechend offen sinnierte der Cheftrainer im Vorfeld des Auswärtsspiels beim VfL Wolfsburg über die Wahrnehmungswirkung von fünf Unentschieden in Folge: Drei Punkte, und es stünden auf einmal sechs Begegnungen ohne Niederlage zu Buche, während nach einer Niederlage vom achten sieglosen Spiel in Serie die Rede sein würde. Das schnelllebige Bundesligaschicksal sollte sich erst ganz am Ende auf die Seite der weiter unbezwungenen Niedersachsen schlagen, die der fünfte Sieg im elften Spiel über Nacht in die Champions League-Ränge spülte.
So ausgeglichen sich die Auseinandersetzung in der Autostadt gestaltete, tut es 2020/21 mehr denn je auch die Tabelle. Um es in Bezug auf die Eintracht etwas überspitzt zu betrachten, betrug der Abstand auf Platz vier wie 16 gleichermaßen sechs Zähler. Kaum verwunderlich daher, dass Hütter nach dem 1:1 gegen Dortmund vor einer Woche bemerkte: „Natürlich verliere ich lieber drei Mal und gewinne vier Mal.“ Die Drei-Punkte-Regel lässt grüßen.
Nicht nachgelegt
So mochte es vielleicht nach dem Schlusspfiff verwundern, dass fast alle Beteiligten mehr einem verpassten Sieg und weniger einem ausgebliebenen Punktgewinn hinterhertrauerten. Bas Dost etwa, der an alter Wirkungsstätte einen unstrittigen Foulelfmeter nach einer Stunde zur Führung verwandelte, haderte: „Wir müssen das 1:0 nach Hause bringen.“ Auch Sportdirektor Bruno Hübner meinte: „Wir müssen vorher 2:0 führen.“ Ausführungen, die denen nach dem Remis gegen den BVB ähnelten, als die Hessen ebenfalls in Front gelegen, es aber verpasst hatten, rechtzeitig nachzulegen. Möglicherweise auch in diesem Zusammenhang ist es zu sehen, dass Dost, enttäuscht, aber gefasst, bekräftigte: „Nicht alles, was wir machen, ist schlecht.“
In gewissen Aspekten ist sogar eine Verbesserung festzustellen. Immerhin galt vor nicht allzu langer Zeit noch die Anfangsphase als Achillesferse der Adlerträger, die immerhin fünf Rückstände unter großer Kraftanstrengung noch in Teilerfolge verwandeln konnten. Dahingehend schienen die Sinne auch gegen den VfL nachhaltig geschärft, außer dem Pfostentreffer von Xaver Schlager zu Beginn gerieten die Gäste vor der Pause kaum in die Bredouille. Und das gegen eine Mannschaft, die vor dem Seitenwechsel bereits zwölf Mal genetzt hatte, nur die Bayern öfter (17).
Freilich fehlte im Vorwärtsgang zunächst die letzte Zielstrebigkeit, wozu etwa der wegen muskulären Problemen ausgefallene André Silva keinen Beitrag leisten konnte. Der Portugiese drückte im trauten Heim vor dem Fernseher die Daumen, woran er auch die Instagram-Gemeinde teilhaben ließ: „LETS GO @eintrachtfrankfurt“, war der gefährlichste Frankfurter Stürmer in der 46. Minute guten Mutes. Mutiger wurden bald auch seine Kollegen, die immer häufiger den Weg in den Strafraum fanden. „Die Führung hat uns sehr gutgetan und war nach der 100-prozentigen Torchance durch Filip Kostic zuvor auch nicht unverdient“, konstatierte denn auch Hütter, der sogleich Ursachenforschung für die zweite Saisonniederlage betrieb: „Speziell über die Seite haben wir zu passiv agiert und haben in der einen oder anderen Situation den letzten Pass nicht verhindert, weil wir nicht aggressiv genug waren.“
Zentrum dicht
Dabei hielten die Hessen gerade im Zentrum lange, was der Spielberichtsbogen versprach: Mit Stefan Ilsanker kehrte ein zusätzlicher defensiver Mittelfeldspieler in die erste Elf zurück, was angesichts der Konter- und Kopfballstärke der Wölfe ebenso naheliegend war wie die Startelfgarantie für Dost am Vortag. Während der Niederländer sowohl die meisten Luftduelle führte (15) und für sich entschied (66,7 Prozent), sah Wolfsburg gegen das massive Zentrum kaum ein Durchkommen und verlagerte knapp die Hälfte seiner Angriffe auf die rechte Außenbahn.
Aus der Frankfurter Triple-Sechs stach besonders Djibril Sow hervor, der nicht nur traditionell die meisten Kilometer abriss (12,1), sondern auch am Großteil der Offensivaktionen beteiligt war, die meisten Torschüsse (drei) und die stärkste Frankfurter Passquote (81,8 Prozent) aufwies. Häufig im Zusammenspiel mit Erik Durm, der mit sieben Flanken am meisten Betrieb über Außenbahn machte. Was der Weltmeister für das gesamte Team geltend machen wollte: „Die ersten 20 Minuten nach der Pause haben wir Dampf gemacht und verdient geführt. Dann kriegen wir einen Elfmeter.“ Dieser Strafstoß, der die Gäste schnell wieder von der Siegerstraße beförderte. Gereichten nach den Führungen bei Union Berlin und gegen Borussia Dortmund zwei je nach Perspektive (Alb-)Traumtore von Max Kruse und Giovanni Reyna zur Punkteteilung, waren in Wolfsburg schlicht zwei falsche Bewegungen zur falschen Zeit: Die des Balls und jene des Arms von Stefan Ilsanker. „Kein Vorwurf an Stefan“, beteuert Durm. Wie auch.
Geschehen ist geschehen und die nächste Herausforderung nicht fern. Am Dienstag gastiert Borussia Mönchengladbach zum letzten Heimspiel 2020 im Deutsche Bank Park. Dann „haben wir die nächste Chance auf drei Punkte“, ist sich Sow vor dem Wiedersehen mit seinen alten Kollegen sicher. Durm fordert, „wieder alles auf den Platz zu bringen und eine Reaktion zu zeigen. Wir waren zuletzt gegen Spitzenmannschaften immer auf Augenhöhe. Es ist weiter schwer, gegen uns zu gewinnen.“ Nicht zuletzt weiß Hütter, der seine Mannen am Montag- und Dienstagvormittag auf dem Trainingsgelände versammeln wird, dass „wir uns im Niemandsland“ befinden. „Auf der anderen Seite haben wir noch in zwei Spielen die Gelegenheit, alles rauszuhauen.“ Tatsache, und alles andere als Träumerei.