16.05.2021
Historie

Aus iberischem Holz geschnitzt

Ein Lichtblick an einem grauen Nachmittag: André Silva ist Eintrachts bester Bundesligaschütze innerhalb einer Saison. Eine Analyse – mit Glückwünschen vom Entthronten.

Fast zeitgleich war es am Samstag soweit. Drei Minuten, nachdem Robert Lewandowski mit seinem 40. Saisontor den Allzeitrekord an Bundesligatreffern pro Spielzeit von Gerd Müller ausgeglichen hatte, traf auch André Silva für die Eintracht und egalisierte damit Bernd Hölzenbeins 26 Treffer. Der Stürmer, mit 160 Treffern wahrscheinlich für alle Zeiten erfolgreichster Adlerträger in der Bundesliga, hatte in der für die Eintracht ebenso starken Saison 1976/77 diese Marke gesetzt. Als Silva nach seinem Kopfball zum 1:1 in Gelsenkirchen auch noch das Leder zum 3:4-Anschluss über die Linie stocherte, war die Bestmarke von „Holz“ Geschichte. Dass Andrej Kramaric das gleiche Kunststück für Hoffenheim gelungen war, blieb dabei genauso nicht mehr als eine Fußnote wie der Fakt, dass Müller jenen Bestwert 1972 im Grünwalder Stadion gegen die SGE aufgestellt hatte. Deshalb zum Wesentlichen.

Die stärkste Torquote aller Zeiten

André Silva setzt weiter Bestmarken als Angreifer der Eintracht. Seit dem 18. Spieltag hatte nie ein Adlerträger bis zum jeweiligen Zeitpunkt mehr Treffer erzielt als er. Nur Theofanis Gekas (18. Spieltag, 14 Treffer) und Alexander Meier (25., 19) lagen kurzzeitig gleichauf. Hauptgrund dafür ist eine bärenstarke Rückrunde, in der Silva bei jedem Einsatz im Schnitt genau ein Tor erzielte – 15 Treffer in 15 Spielen. Insgesamt liegt sein Torquotient in der Bundesliga bei 0,7 Treffern pro Spiel. Kein Adlerträger mit drei oder mehr Toren kommt auch nur annähernd auf diese Quote. Nicht Langzeitknipser Bernd Hölzenbein (0,38 bei 420 Spielen), nicht ein über viele Jahre starker Anthony Yeboah (0,55) und auch nicht der bereits erwähnte Grieche Gekas bei allerdings 34 Einsätzen (0,47). Den Top Ten der Eintracht-Torjäger ist Silva nahe, obwohl dort alle Akteure mindestens doppelt so viele Partien absolviert haben. Auf Platz zehn liegt Karl-Heinz Körbel mit 45 Treffern, Silva kommt bereits auf 39 und liegt hinter Ioannis Amanatidis (42) auf Platz zwölf.

Das ist eine unglaubliche Leistung, zeigt seine außergewöhnlichen Fähigkeiten und dass er nicht nur in Frankfurt, sondern auch in der Bundesliga komplett angekommen ist.

Bernd Hölzenbein über André Silva

Wer hätte einen solch historischen Werdegang im September 2019 für möglich gehalten, als Silva zunächst per Leihe von der AC Milan gekommen war und vier Tage später im Freundschaftsspiel gegen die Chemie Leipzig gleich mal mit einem Doppelpack zur Führung wie zum 5:1-Endstand seinen Torriecher erahnen ließ. Rund ein Jahr später folgte die feste Verpflichtung bis 2023. All seine 44 Pflichtspieltore – zwei in der UEFA Europa League, drei im DFB-Pokal und jene 39 in der Liga – hat er somit unter Adi Hütter erzielt. Der Cheftrainer sagte in Gelsenkirchen über den Rekord seines Schützlings: „Natürlich ist das heute ein schwacher Trost. Wie ich André kenne, hätte er die Tore sicher lieber gegen einen Sieg getauscht. Wenn man 27 Tore für Eintracht Frankfurt schießt, ist das etwas Außergewöhnliches. Bernd Hölzenbein ist eine Legende in Frankfurt. Ich muss deshalb nicht nur Silva, sondern der ganzen Mannschaft ein Riesenkompliment machen, den Rekord gebrochen zu haben. André profitiert von der Mannschaft und sie von ihm. Das ist einzigartig, auch wenn die Enttäuschung kurz nach dem Spiel überwiegt.“

Erster Auftritt in der Öffentlichkeit: André Silva beim Benefizspiel gegen Chemie Leipzig.

Hütter vergisst also auch im Moment der Niederlage nicht, Legende Hölzenbein zu erwähnen. Sein Rekord war in diesem Jahr in aller Munde, mit jedem Silva-Tor wurde das Thema größer. In der vergangenen Woche ging es dann nicht nur um den Rekord, sondern auch um einen ganz besonderen Hölzenbein-Moment. Ajdin Hrustics kurioser Ausgleichstreffer gegen Mainz erinnerte an den legendären Sitzkopfball Hölzenbeins auf dem Weg zum UEFA-Pokalsieg der Eintracht 1980. Nur sechs Tage später ist der 75-Jährige gewissermaßen entthront. Der heutige Markenbotschafter nimmt es aber sportlich. „Ich freue mich sehr für André, dass er meinen 44 Jahre alten Rekord gebrochen hat. Das ist eine unglaubliche Leistung, zeigt seine außergewöhnlichen Fähigkeiten und dass er nicht nur in Frankfurt, sondern auch in der Bundesliga komplett angekommen ist. Er drückt dieser Saison absolut seinen Stempel auf. Herzlichen Glückwunsch dazu.“

Nervenstark vom Punkt

Keine Abwehrchance schon vor 44 Jahren: Bernd Hölzenbein trifft vom Elfmeterpunkt.

Bei genauerer Betrachtung der beiden Generationen findet sich schnell eine Gemeinsamkeit: Die traumwandlerische Sicherheit bei Elfmetern. Drei Mal trat Hölzenbein in der Saison 1976/77 zum Strafstoß an, drei Mal zappelte der Ball im Netz. Auch Silva ist bei den gegnerischen Torhütern sicher nicht der beliebteste Gegenüber, denn er konnte in dieser Spielzeit sogar alle sechs seiner Elfmeter verwandeln und hat außerdem für die Eintracht bei insgesamt neun Versuchen nie vom Punkt nie vergeben. Überhaupt sind die Entscheiderqualitäten des Vollstreckers bemerkenswert: Sieben Begegnungen hätte die Eintracht seit der vergangenen Saison ohne einen Treffer des 25-Jährigen nicht gewonnen, gar 14 Mal gelang ihm das 1:0.

Mehr als ein Matchwinner

Doch Silva allein auf seine Ausbeute zu reduzieren, griffe viel zu kurz. Der Nationalspieler hat sich mittlerweile zu einem nahezu kompletten Stürmer entwickelt, setzt als ausgebildeter Zehner dank seines Spielverständnisses oftmals auch seine Mitspieler gekonnt in Szene und verbucht in dieser Runde fünf Assists. In der Luft ist der 1,85-Meter-Mann sogar einsame Spitze. Seine neun Kopfballtore nach Vorlagen von Filip Kostic (sechs), Bas Dost, Steven Zuber und zuletzt Amin Younes (je eins) sind der höchste Wert in der Bundesliga vor Münchens Lewandowski und Wolfsburgs Wout Weghorst (beide fünf).

Wie der aus der portugiesischen Gemeinde Baguim do Monte stammende Iberer galt auch Hölzenbein, gebürtig in Dehrn an der Lahn, Zeit seiner Karriere als sehr schwer ausrechenbarer Spieler, der nicht nur die berühmten Flankenläufe von Willi Neuberger meist erfolgreich abschloss, sondern dank seiner exzellenten Technik gemeinsam mit Jürgen Grabowski und Bernd Nickel auch spielerische Glanzpunkte setzte.

Kurios: Holz und Silva nicht Torschützenkönig

Eine Kuriosität eint Silva und Hölzenbein: Buden am Fließband, aber keine Torjägerkanone. In 36 von 58 Bundesligajahren hätten 26 Treffer zum Torschützenkönig gereicht. Hölzenbein musste 1976/77 allerdings den beiden Müllers, Dieter (34/1. FC Köln) und Gerd (28/FC Bayern München) den Vortritt lassen. Silva tritt in der laufenden Spielzeit im Fernduell mit Dortmunds Erling Haaland um Platz zwei an. Bayerns Lewandowski ist mit 40 Saisontoren enteilt. Die Frankfurter Torschützenkönige bleiben somit (vorerst) Jörn Andersen (18 Tore 1989/90), Anthony Yeboah (20 Tore 1992/93 und 18 Tore 1993/94) und Alexander Meier (19 Tore 2014/15).

Die treffsichersten Adlerträger innerhalb einer Bundesligasaison

Tore Spieler Saison
27 Silva 20/21
26 Hölzenbein 76/77
20 Yeboah 92/93
19 Meier 14/15
19 Huberts 63/64
18 Yeboah 93/94
18 Andersen 89/90
17 Jovic 18/19
17 Huberts 65/66
16 Hölzenbein 74/75 und 75/76
16 Möller 90/91
16 Gekas 10/11
16 Meier 12/13

Einen anderen Rekord hat sich Silva bereits vergangene Saison gesichert. Mit den zwölf Toren in seiner Frankfurter Debütsaison Saison 2019/20 löste er Hugo Almeida als treffsichersten portugiesischen Bundesligaschützen innerhalb einer Spielzeit ab. Dieser netzte 2007/08 elf Mal für Werder Bremen. In der ewigen Tabelle der portugiesischen Bundesligatorjäger liegt Silva zwar noch knapp hinter Almeida. Allerdings benötigte dieser für seine 42 Ligatore auch mehr als doppelt so viele Einsätze (124) als sein adlertragender Landsmann (56).

Dieser kann nun seinen Torrekord am letzten Spieltag gegen den SC Freiburg noch ausbauen. Damit würde er auch den Rückrundenrekord der Eintracht egalisieren oder brechen, den bislang Rüdiger Wenzel hält (16) – genauso die Hölzenbein-Marke aus der Saison 1976/77. Hier müsste Robert Lewandowski übrigens noch fünf Tore erzielen, um Gerd Müller zu knacken. Silva wiederum könnte zu Müller aufschließen – zu dessen Gesamttoranzahl aus der Spielzeit 1976/77. Frei nach Tony Marshall: Einer geht noch, einer geht noch rein.