18.01.2021
Bundesliga

Circle of Life

Am Sonntagabend schließen sich gleich mehrere Kreise. Natürlich bestimmen Abraham und Jovic die Schlagzeilen. Aber es bleiben nicht die einzigen rührenden Geschichten.

Zwischen den Trainerstühlen

Als David Abraham den Entschluss fasste, nach dem Heimspiel gegen den FC Schalke 04 seine Profikarriere zu beenden, hatte er sicher am wenigsten im Sinn, welch besondere Konstellation sich am 16. Spieltag ergeben würde. Auf der einen, der Gegenseite, stand am Sonntag nämlich ausgerechnet Christian Gross. Der 66-Jährige, erst seit Ende Dezember Chefcoach der Knappen, war 2008 der erste Trainer, der den Argentinier beim FC Basel unter seiner Obhut hatte. Dass Gross selbst als aktiver Kicker sein erstes von vier Bundesligatoren am 20. September 1980 für den VfL Bochum gegen Frankfurt erzielte: Eine nette Randnotiz.

Weit tiefergehender auf der anderen Seite ist die Tatsache, dass Adi Hütter den scheidenden Captain gegen Königsblau zum 79. Mal aufbot – und damit öfter als jeder andere Übungsleiter, ein Mal häufiger als Thorsten Fink. „Ich wollte mich bei David für seine Leistung und die vielen schönen Momente mit ihm bedanken. Wir haben in der Vergangenheit viele Stunden zusammengesessen, über sportliche und familiäre Dinge gesprochen. Auch wenn es für die Mannschaft mal nicht gut lief“, begründete Hütter seinen spontanen Gefühlsausbruch, als er unmittelbar nach dem Schlusspfiff auf den 34-Jährigen zustürmte und sich beide innig in den Armen lagen.

Zum Abschluss hatte Abraham nochmal einen wichtigen Teil zum vierten Bundesligasieg in Serie beigetragen und allein in der ersten Halbzeit jeden einzelnen Zweikampf für sich entschieden. Die Kollegen standen dem kaum in etwas nach. So geschlossen die als einziges Team in diesem Jahr verlustpunktfreien Adlerträger den Gästen am Sonntagabend begegneten, bildeten sie im Anschluss einen mehrminütig anhaltenden Kreis an der Mittellinie, lauschten den Worten Hütters und Abraham und ließen ihren Anführer ein letztes Mal in den Frankfurter Nachthimmel hochleben.

Nicht auszudenken, was in einem ausverkauften Deutsche Bank Park losgewesen wäre. Dass die Fans dennoch unverändert im Bewusstsein der Fußballer sind wie umgekehrt, bezeichnenderweise verzeichnete EintrachtFM eine Reichweite von 102.557 Hörern, unterstrichen diese noch vor Spielbeginn, als sie zu Ehren eines unter der Woche plötzlich verstorbenen hoch angesehenen und beliebten Anhängers mit dem allerorts bekannten Spitznamen „Rundschau“ gedachten, indem sie gemeinsam ein Blumengesteck sowie Kevin Trapp ein Paar seiner Torwandhandschuhe niederlegten.

Doppelter Schub

Wie nah Leben und Tod beieinanderliegen, erfuhr dahingehend Freitagfrüh Djibril Sow, der Vater einer Tochter geworden war. „Momentan ist Djibril einer der stärksten Spieler in unserer Mannschaft. Er überzeugt läuferisch und zeigt auch fußballerisch ein ganz anderes Gesicht. Es gab ihm zusätzlichen Auftrieb, dass er Papa geworden ist“, war sich Coach Hütter im Nachgang sicher und bezog in dieser Hinsicht auch Filip Kostic ein, der Luka Jovic in dessen erster halben Stunde nach seiner Rückkehr die Siegtreffer zum 2:1 und 3:1 auflegte: „Beide sind dicke Buddys. Ich bin froh, dass er die beiden Treffer vorbereitet hat.“

Tatsächlich kehrte mit Jovic nicht nur die im ersten Durchgang vermisste Effizienz beim Torabschluss zurück. Zugleich erfreute sich nämlich Kostic eines mehr als dankbaren Verwerters. 14 Flanken schlug der Linksaußen, fünf fanden einen Abnehmer, sechs Zuspiele auf seinen Landsmann führten zu zwei gekonnten Schüssen – und zwei Buden. Eine Eiseskälte, wie sie zuvor einzig meteorologisch vorgeherrscht hatte. „Die Tore waren Extraklasse, sowohl die Vorbereitungen als auch die Abschlüsse“, zeigte sich auch Sportvorstand Fredi Bobic, einst selbst der geborene Knipser, ganz verzückt vom fulminanten Einstand seines jüngsten Transfercoups.

Sehr zum Leidwesen der Schalker, denen Jovic in nun sechs Begegnungen sieben Kisten eingeschenkt hat, darunter eine zum 1:0 im DFB-Pokal Halbfinale 2018. „Luka ist überragend in der Box. Das Zusammenspiel mit Filip passt natürlich sehr gut“, frohlockte ebenso Makoto Hasebe, der am heutigen Montag seinen 37. Geburtstag feiert. Ein Geschenk hat indessen der Matchwinner von Sow zu erwarten, wie der Schweizer verriet: „Er bekommt von mir eine Kleinigkeit.“ Der Anlass: „Ich habe Luka vor dem Spiel gefragt, wie viele Tore er heute schießt. Er sagte: Wenn ich 15 Minuten spiele, dann eins. Dann habe ich erwidert: Wenn du 30 Minuten spielst, dann machst du zwei Tore.“ Gesagt getan. 

Diese Minuten-pro-Tor-Quote wird Jovic – bei allem Respekt – vermutlich kaum halten können. Wenngleich jene denkwürdigen Stunden im Herzen von Europa den Schluss nahelegen, dass selbst das Unvorstellbare möglich ist. Siehe den Trikottausch von Abraham mit Schiedsrichter Manuel Gräfe. „Die Idee, das Trikot mit Schiedsrichter Manuel Gräfe zu tauschen, ist mir heute gekommen. Es ist eine Ehre für mich, er hat großes Renommee“, berichtet Abraham, die Flagge Argentiniens über den Schultern tragend, von der Entstehung dieser unüblichen Geschichte.

Heimlicher Held

Bei all diesen Ausnahmeerscheinungen geht beinahe unter, welch Ausnahmeleistung ein weiterer Akteur abrief: Evan Ndicka. Die Werte des Franzosen in Kürze: 85 Pässe, darunter 81 erfolgreiche, folglich eine Quote von 95,3 Prozent sowie 104 Ballkontakte und acht Balleroberungen – allesamt top! Was auch Hütter nicht verborgen geblieben ist: „Evans Durchbruch vor dem 2:1 war genial!“ Und bestätigt den Eindruck, dass sich der Verteidiger nicht allein auf seine Kernkompetenz beschränkte, sondern auch im Vorwärtsgang forsch zu Werke ging. 49 Zuspiele in der gegnerischen Hälfte mit einer Erfolgsquote von 91 Prozent sind ihrerseits spitze. Mitnichten ist es Zufall, dass sich Ndicka und Kostic über die linke Flanke insgesamt 42 Mal gegenseitig bedienten.

Insofern ist an der vergangenen Abwehranordnung mit den Linksfüßern Ndicka halblinks und Martin Hinteregger zentral kaum zu rütteln, zumindest sofern alle gesund bleiben. Dies war beim Österreicher in dessen 150. Bundesligaspiel kurz nach dem Seitenwechsel nicht mehr der Fall. Der einzige Feldspieler, der bisher keine Pflichtspielminute verpasst hatte, „hat einen Pferdekuss auf den Oberschenkel bekommen, der Muskel hat zugemacht und sich aufs Knie verlagert, weshalb er nicht mehr sprinten konnte“, erläuterte Hütter auf der Pressekonferenz die Maßnahme. „Deshalb habe ich entschieden, Makoto nach hinten zu ziehen und Ajdin Hrustic zu bringen.“

Für die belebende Nummer sieben schloss sich damit ebenso ein kleiner Kreis. Der wie Kostic vom FC Groningen in die Bundesliga gewechselte Australier verbrachte nämlich zwei Jahre in der Knappenschmiede in Gelsenkirchen. „Ich bin froh, hier zu sein. Wir haben ein tolles Team und sind wie eine große Familie“, fühlt sich der 24-Jährige seinerseits angekommen und spricht stellvertretend für alle: „Wir haben nicht viel Zeit, um bis zum nächsten Spiel gegen Freiburg zu regenerieren.“

Genau genommen bleibt nach dem Auslaufen am Montag eine Einheit am Dienstagvormittag, ehe nach dem Anschwitzen am Mittwochmorgen die Reise in den Breisgau beginnt. Nachdem für Abraham nach eigenen Worten „eine lange Reise endet“, hat diese für einige Adlerträger vielleicht erst begonnen. Wie bei Ndicka, dem wie vielen anderen die Zukunft gehören soll. Sein erstes Bundesligaspiel bestritt der 21-Jährige übrigens im August 2018 in Freiburg. Aber das ist eine andere Geschichte...